Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 786

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Die Revolution in Rußland

[1]

Der Streik dauert fort. Nachrichten aus Rußland liegen fast keine vor, außer einigen Versicherungen der Petersburger Agentur … daß der Streik so gut wie beendet, der Verkehr „normal“ und alles in schönster Ordnung sei. Den Humor scheint man in Petersburg noch nicht verloren zu haben, wenn es auch nur Galgenhumor ist.

Englische Blätter melden: 100000 Arbeiter in Petersburg sind jetzt mit Schußwaffen ausgerüstet. Zwei Millionen Revolver sind über das ganze Reich verteilt worden. Von Revolutionären im Auslande angebotene Gewehrsendungen wurden von den Führern der Aufständischen mit der Begründung abgelehnt, es würden genügend Gewehre aus den kaiserlichen Arsenalen zur Verfügung stehen.

Der „Verband der Verbände“ richtete an den Grafen Witte[2] ein Ultimatum bezüglich der Meldung, eine Anzahl der Teilnehmer an den Meutereien in Sewastopol würden erschossen werden. Der Verband droht einen Generalstreik an, falls das Urteil nicht sofort aufgehoben werde.

Die Meuterei der russischen Truppen in Harbin begann nach weiteren Meldungen von dort am 12. November. An der Meuterei beteiligten sich gegen 10000 Soldaten. Sie verübten Tumulte in den Straßen, plünderten die meisten chinesischen Läden und steckten die Regierungsmühlen, die Kasernen und andere kaiserliche Gebäude in Brand. Es kam dabei zu Zusammenstößen, bei denen zahlreiche Personen getötet wurden.

Ferner liegen folgende Meldungen vor:

Kiew, 9. Dezember. In Proskurow meuterte das dortige zweite Infanterie-Regiment. Die Mannschaften verweigerten den Dienst und vernichteten die Ausrüstungsgegenstände.

Odessa, 9. Dezember. Nach Privatmeldungen aus Sewastopol ist Leutnant Schmidt[3] noch nicht hingerichtet. Er wurde gestern unter sehr starker Bedeckung nach der Festung Otschakow gebracht. Ferner wird aus Sewastopol gemeldet, daß der Herausgeber des dortigen Blattes, „Krimski-Westnik“ [Der Bote von der Krim], unter Andro-

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 377 verzeichnet.

[2] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.

[3] Siehe dazu Rosa Luxemburg: Leutnant Schmidt. In: GW, Bd. 6, S. 748 ff.; dies.: Die Revolution in Rußland. In: GW, Bd. 6, S. 786; dies.: Die Wahrheit über Sewastopol. In: ebenda, S. 811 ff.