Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 253

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/253

Ein Arbeiterblatt in Rußland

[1]

L. Soeben ist die erste Nummer eines unter der Moskauer Zensur herausgegebenen Wochenblattes für die Arbeiterschaft unter dem Titel: „Die Fahne“ (Znamja) erschienen. Wie aus dem Leitartikel ersichtlich, steht die Redaktion vollkommen auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung und stellt sich die Verbreitung des Klassenbewußtseins unter dem russischen Proletariat zur Aufgabe.

Nachdem die Redaktion die früheren sozialistischen Richtungen in Rußland – die Narodniki und Narodowolzy[2] – vom Standpunkte der modernen ökonomischen Entwicklung Rußlands kritisiert hat, schließt sie ihr Glaubensbekenntnis mit den Worten: „Wir glauben fest an die Möglichkeit, auf den elementaren Lebensprozeß aktiv einzuwirken und in ihn einzugreifen, nicht mit der Absicht, das Rad der Geschichte rückwärts zu drehen. Nein, unsere Ziele sind andere und völlig ausführbare. Die Entwicklung der Selbstbetätigung, der Solidarität, des Verständnisses für das Vorgehende, des Bewußtseins eigener Interessen in der Arbeiterklasse – dies die Erfordernisse des gegenwärtigen Entwicklungsabschnittes.“

Die erste Nummer des Blattes ist ziemlich geschickt zusammengestellt, sie behandelt die Frage des Verhältnisses des Individuums zum gesellschaftlichen Leben, die sozialen Anschauungen von John Ruskin[3], den Militarismus und das Abrüstungsmanifest[4] etc.; in der Bibliographie werden Labriolas Materialistische Geschichtsauffassung[5] und Sid

Nächste Seite »



[1] Der Notiz ist ein L vorangestellt. In Rosa Luxemburgs Brief vom 14. Januar [1899] schrieb sie an Leo Jogiches, sie habe von der russischen Emigrantin Schirman „die Nummer eines neuen marxistischen populären Blattes“ erhalten, „das legal in Rußland erscheinen wird, anscheinend nicht unter der Ägide der Clique Plech[anow]-Struve etc.“ Es mache „einen sehr sympathischen, wenn auch ein wenig unfertigen Eindruck“. Sie werde ihre Notiz nicht mit rl zeichnen, siehe GB, Bd. 1, S. 252.

[2] „Narodnaja Wolja“ (Volkswille) war 1879 als illegale revolutionäre Organisation aus der nach 1861 in Rußland entstandenen Bewegung der Narodniki/Narodowolzy (Volkstümler) hervorgegangen. Sie bildete sich nach der Spaltung von „Semlja i Wolja“ (Land und Freiheit). Die Ziele von „Narodnaja Wolja“ waren u. a. allgemeines Wahlrecht, Gewissens- u. Pressefreiheit, eine tiefgreifende Agrarreform, in deren Ergebnis das Land den Bauern übertragen werden sollte, die es bearbeiteten. Die Zeitung „Narodnaja Wolja“ erschien – mit Unterbrechungen – illegal zwischen Oktober 1879 und Oktober 1895 mit einer Auflage von 2000 bis 3000 Exemplaren. Den Sturz der Selbstherrschaft versuchte sie durch Taktik der Verschwörung und des individuellen Terrors zu erreichen. Nach dem Attentat auf Zar Alexander II. 1881 wurde die Organisation zerschlagen.

[3] Siehe die Schrift von John Ruskin: Unto this last. Four Essays on the First Principles of Political Economy, Sunnyside, Orpington, Kent 1884. Zu seinen sozialen Anschauungen siehe Gerhart von Schulze- Gaevernitz: Zum socialen Frieden. Eine Darstellung der socialpolitischen Erziehung des englischen Volkes im neunzehnten Jahrhundert. Erster Band, Leipzig 1890, S. 400 ff.

[4] Auf Initiative Rußlands, das im internationalen Wettrüsten nicht Schritt halten konnte, sollte eine internationale Konferenz zu Fragen der Aufrechterhaltung des Friedens und der Einschränkung der Rüstungen stattfinden. Am 12. August 1898 hatte die zaristische Regierung allen ausländischen Gesandten in Petersburg eine entsprechende Note überreicht. In einem zweiten Schreiben vom 11. Januar 1899 formulierte sie die Tagesordnungspunkte, die für die vom 18. Mai bis 29. Juni 1899 in Den Haag stattfindende sogenannte Friedenskonferenz als Verhandlungsgrundlage dienen sollten. Siehe auch Rosa Luxemburg: Ein neues zaristisches Rundschreiben. In: GW, Bd. 6, S. 255 ff.

[5] Siehe Antonio Labriola: Del materialismo storico, Rom 1896. – Eine deutsche Übersetzung lag zu dieser Zeit nicht vor. Siehe Antonio Labriola: Über den historischen Materialismus. Hrsg. von Anneheide Ascheri-Osterlow und Claudio Pozzoli, Frankfurt am Main 1974, S. 139 ff. Siehe außerdem Rosa Luxemburg: Antonio Labriola über Bernstein. In: GW, Bd. 6, S. 262 ff.