Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 346

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1902

Polnischer Granit

[1]

Die Wege des Grafen Bülow sind dunkel. Ihn treibt der Ehrgeiz, der Reichskanzler der Sinnlosen zu werden. Es drängt ihn, politische Aktionen zu unternehmen, deren Zweck niemand, deren Aussichtslosigkeit jeder einsieht. Will er den Zusammenbruch organisieren, ist er nur zufrieden, wenn er seine Niederlagen vorbereiten kann? Oder fühlt er in sich das Talent zum Verwandlungskünstler, der auf der Bühne hundert Rollen spielt, nur um das Glück genießen zu können, in hundert Rollen ausgepfiffen zu werden. Oder muß er diese zapplige Politik treiben, weil er sich verpflichtet fühlt, alle möglichen fremden wechselnden Aufträge schnell und prompt auszuführen?

Sicher ist, daß von keinem Standpunkt irgendein vernünftiger Grund ermittelt werden kann, aus dem der Kanzler, als ob nicht übergenug Explosionsstoff bereits aufgehäuft wäre, plötzlich einen grimmen Feldzug gegen die Polen eingeleitet hat, der ihn mit der treuesten Regierungspartei, dem Zentrum, in unvermeidlichen Konflikt bringen muß, und der obendrein zum schmählichsten Mißerfolg notwendig führen muß. Gäbe es eine ernsthafte großpolnische Bewegung, sie sollte den Grafen Bülow als ihren besten Agitator anstellen.[2]

Der bereits in der preußischen Thronrede[3] angekündigte Kampf gegen die Polen hat im Abgeordnetenhause seinen Anfang genommen. Die Nationalliberalen, die keine Gelegenheit vorübergehen lassen, ohne sich der Regierung als Hüter des nationalen Gedankens in empfehlende Erinnerung zu bringen, konnten in ihrem Übereifer den Beginn des Kampfes nicht erwarten. Sie hatten die Regierung im Abgeordnetenhause über die Maßnahmen interpelliert, die sie zu ergreifen gedenkt, um den Worten der Thronrede gemäß „in den östlichen Provinzen dem Deutschtum die politische und wirtschaftliche

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[1] Der Artikel erschien anonym, Rosa Luxemburgs Verfasserschaft ist in der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), unter Nr. 201 ausgewiesen, siehe auch: Resolution über die Wreschener Affäre. In: GW, Bd. 1, 2. Halbbd., S. 159.

[2] Gemeint ist die Rede des Reichskanzlers Bernhard von Bülow am 13. Januar 1902 im preußischen Abgeordnetenhaus in der Debatte zu zwei Interpellationen über die Verhältnisse in den Ostmarken. Es handelte sich um eine nationalliberale Interpellation über die Maßnahmen zur Stärkung des Deutschtums im Osten, und eine polnische, vom Zentrum unterstützte, die sich auf die Sprache des Religionsunterrichts bezog. Siehe Graf Bülows Reden nebst urkundlichen Beiträgen zu seiner Politik. 1897–1903. Mit Erlaubnis des Reichskanzlers gesammelt und hrsg. von Johannes Penzler, Leipzig 1903, S. 254–279.

[3] Im Namen des Königs von Preußen, Wilhelms II., hatte Reichskanzler Bernhard von Bülow am

8. Januar 1902 die Thronrede zur Eröffnung der Session des preußischen Abgeordnetenhauses vorgetragen.