Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 150

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Die Revision des Dreyfus-Prozesses

[1]

wird abermals eine Verschiebung erfahren, da der Kriegsminister sich nach Prüfung der Akten gegen eine Revision erklärt haben soll. Von den dem Kriegsminister zugeteilten Offizieren wird mit wachsender Bestimmtheit versichert, daß General Zurlinden infolge sorgfältiger Prüfung der Dreyfus-Akten immer mehr die Überzeugung gewinne, daß eine Revision des Prozesses nicht nur nicht notwendig, sondern geradezu unmöglich sei. Es heißt, der Justizminister Sarrien selbst sei schwankend geworden, nur Brisson halte die Revision für absolut unabweislich. Diese Meinungsverschiedenheiten könnten nicht nur den Rücktritt Zurlindens, sondern sogar eine Kabinettskrise zur Folge haben. – Der „Soir“ will wissen, General Zurlinden übermittelte dem Justizminister Sarrien die Aktenstücke in der Dreyfus-Affäre mit der Hinzufügung einer ausführlich begründeten Schlußfolgerung, daß er gegen jedwede Revision sei. Der Kriegsminister sei entschlossen, zu demissionieren, falls das Ministerium seiner Ansicht nicht beipflichte. – Eine Note der „Agence Havas“ besagt: Der Kriegsminister Zurlinden hat dem Justizminister Sarrien die Akten in der Dreyfus-Angelegenheit mit seiner motivierten und definitiven Ansicht übergeben. Der Ministerrat wird Montag definitiv über die zu treffende Entscheidung beschließen.

Die Beunruhigung über die Verschiebung der Revision findet jetzt auch in den revisionsfreundlichen Blättern schärferen Ausdruck. Der „Temps“ sagt, alle Welt wünsche dringend, daß die Regierung ihre Unsicherheit verlasse und eine unzweideutige Erklärung abgebe. Die Revision sei unvermeidlich und man erschwere nur jenen die Aufgabe, die mit der Entscheidung und Durchführung des Verfahrens betraut wurden. Nachdem man Cavaignac gehen ließ, wäre es unbegreiflich, wenn Brisson und seine Kollegen plötzlich wieder umkehrten. Das wäre sinnlos und das Kabinett würde seiner Inkonsequenz zum Opfer fallen. Die „Liberté“ führt aus, das ganze öffentliche Leben sei hypnotisiert durch die Affäre Dreyfus. Alle, die noch Gefühl für die Ehre und die Größe des Landes besitzen, müßten sich zu dem Wunsche vereinigen, daß endlich die Angelegenheit in die Hände der Richter gelegt werde, wohin sie allein gehöre.

Man neigt zu der Ansicht, daß Zurlinden vorgeschoben wurde, um die Revision zu verzögern. Andererseits verlautet, Brisson sei nach wie vor entschlossen, auf eine

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[1] Diese Mitteilung ist nicht gezeichnet, ist aber wahrscheinlich von Rosa Luxemburg, denn sie schließt unmittelbar an einen mit II, einem ihrer Zeichen, versehenen Artikel zur selben Thematik an.