Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 318

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Die Sozialdemokratie in Frankreich. Rede am 15. Dezember 1900 in einer Volksversammlung in Hamm

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

In großen Zügen schilderte sie die geschichtliche und ökonomische Entwicklung sowie das soziale Milieu Frankreichs, darauf verweisend, daß die Entwicklung auf den angedeuteten Gebieten schuld daran sei, daß es dort so viele sozialistische Parteirichtungen gegeben habe und zum Teil noch gebe. Die vier großen Revolutionen hätten eine Masse schiefer Vorstellungen in den Köpfen der Arbeiter zurückgelassen, die zum großen Teil noch unter diesen Eindrücken krankten. Früh habe sich der Sozialismus in Frankreich entwickelt, doch hätten die einzelnen Richtungen desselben der Klarheit entbehrt. Die Geschichte Frankreichs gebe uns Auskunft darüber, weshalb es dort so viele sozialistische Parteien gebe. Die Referentin wandte sich alsdann den drei sozialistischen Hauptrichtungen zu, den Kollektivisten, Blanquisten und Allemanisten,[2] streifte die Einigungsbestrebungen und Versuche der letzten sozialistischen Kongresse[3] und verweilte längere Zeit bei der Dreyfus- und Millerand-Affäre. Bei der ersten Affäre[4] hätten sich unsere Genossen etwas einseitig gezeigt. Vom Standpunkt des Klassenkampfes lasse sich dieses Verhalten nicht rechtfertigen, obwohl man Gründe anführen könne, die dasselbe als begreiflich erscheinen lassen. Anstatt bei dieser Gelegenheit den Militarismus zu bekämpfen, habe man den Kampf um Dreyfus’ Befreiung geführt. Bezüglich der Ministerschaft Millerands[5] führte Frl. Dr.

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[1] In Hamm sprach Rosa Luxemburg vor 1000 Männern und Frauen. Für den dritten Hamburger Wahlkreis hatte das Hamburger Echo, Nr. 290 vom 13. Dezember und Nr. 291 vom 14. Dezember 1900, mit Rosa Luxemburg Versammlungen in Eimsbüttel, Uhlenhorst und Hamm angekündigt. Ein Zeitungsbericht liegt nur über die Versammlung in Hamm vor.

[2] Die französische sozialistische Bewegung wies in den 90er Jahren des 19. Jh. eine kollektivistische, marxistische (Guesdisten), eine possibilistische, kleinbürgerlich-reformistische (Broussisten), eine blanquistische, sektiererische (Blanquisten), eine anarcho-syndikalistische (Allemanisten) und eine „unabhängige“ sozialreformerische (Jaurèsisten) Strömung auf. – Siehe auch GW, Bd. 6, S. 343 ff., S. 529 ff. und S. 621 ff. sowie „Zu den französischen Einigungskongressen“. In: GW, Bd. 1, 1. Halbbd., S. 619 ff.

[3] Der 16. Nationalkongreß der Französischen Arbeiter-Partei hatte vom 17. bis 20. September 1898 in Montluçon stattgefunden. – Am 3. Dezember 1899 hatte im Pariser Gymnasium Japy ein allgemeiner Kongreß aller sozialistischen Gruppen Frankreichs begonnen, der über die Beteiligung sozialdemokratischer Minister an bürgerlichen Regierungen beriet. Der Kongreß verurteilte den Ministerialismus, ließ aber gegen die Stimmen der Guesdisten Ausnahmeregelungen zu. Die einzelnen Gruppen einigten sich über bestimmte Maßnahmen, die zukünftige gemeinsame Aktionen ermöglichen sollten.

[4] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.

[5] Alexandre-Ètienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine sozialreformerische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser erstmalige Eintritt eines Sozialisten in die Regierung eines bürgerlichen Staates führte in der II. Internationale zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und Reformisten. Siehe auch Rosa Luxemburg: Die Affäre Dreyfus und der Fall Millerand. Antwort auf eine „internationale Umfrage“. In: GW, Bd. 6, S. 277 ff.