Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 319

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Luxemburg aus, daß die Darstellung des Genossen von Vollmar in den „Sozialistischen Monatsheften“, wonach Millerand die Ermächtigung erhalten haben soll, in das Ministerium einzutreten, unrichtig sei.[1] Genosse Vaillant habe ihr geschrieben, daß es Millerand gar nicht eingefallen sei, sich diese Ermächtigung einzuholen. Der „Figaro“ habe diese Ministerschaft ganz richtig eingeschätzt, als er schrieb: „Es sei gar nicht übel, einen Sozialisten im Ministerium zu haben; die Sozialdemokratie sei dadurch minder gefährlich.“ Man brauche den Wert der sozialen Reformen nicht zu verkennen, je mehr, je besser für die Arbeiter, aber mit diesen Reformen die kapitalistische Gesellschaftsordnung heilen zu wollen, könne man nur als Unsinn erklären. Die französischen Arbeiter schauten auf diese Reformen, weil von einem Minister – von ihrem Minister – kommend, und über diese Angelegenheit vergesse man es, die Regierung anzugreifen, in welcher sich dieser Minister befinde. Auf Martinique und in Chalon[2]sei Arbeiterblut geflossen, wofür die Regierung die Verantwortung trage. Diese Regierung habe auch den „Attentäter“ Sipido[3] ausgeliefert, und dieser Regierung gehöre Millerand als Minister an. Das müsse zur Demoralisation führen. Heute wären die französischen Genossen reif für die Einigung, aber die Millerand-Affäre sei der Zankapfel, der das verhindere. Auf dem Boden des Klassenkampfes müsse die Einigung erfolgen, nicht auf dem der Ministerfrage. Als proletarische, revolutionäre Klassenpartei müsse die Sozialdemokratie geschlossen kämpfen und siegen.

Hamburger Echo,

Nr. 294 vom 18. Dezember 1900.

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[1] Siehe Georg von Vollmar: Zum Fall Millerand. In: Sozialistische Monatshefte, 4. Jg., Nr. 12/1900, S. 773 f. – Vollmar behauptete, nicht ein einziger der Abgeordneten der sozialistischen Kammerfraktion hätte Millerand geraten abzulehnen. Angesichts des Mangels an einer organischen Einheit der Partei wäre allerdings kein offizieller Beschluß gefaßt worden. Millerand hätte die Verantwortung für seine Entscheidung daraufhin persönlich übernommen.

[2] Auf der Insel Martinique war im Februar 1900 Militär gegen Landarbeiter eingesetzt worden, die wegen Lohnkürzungen streikten. Dabei waren neun Streikende getötet und 14 verletzt worden. In Chalon-sur-Saône waren im Juni 1900 bei einem Streik ebenfalls durch Militär drei Arbeiter getötet und zahlreiche verletzt worden.

[3] Der belgische Anarchist Jean-Baptiste-Victor Sipido hatte am 4. April 1900 ein erfolgloses Attentat auf den Prinzen von Wales in Brüssel verübt.