Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 691

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Die Wahrheit über Kronstadt

[1]

Ein förmlicher Platzregen widerspruchsvoller Telegramme über die Ereignisse in Kronstadt kam in der letzten Woche aus Rußland. Die Grundtendenz der offiziösen Berichterstattung aus dem Zarenreich trat kraß zutage: Die Rebellion in Kronstadt sollte dem westeuropäischen Publikum als eine Orgie sinnlos betrunkener Matrosen, als eine Reihe haarsträubender Greueltaten des wütenden Mobs – darunter sollte das Publikum eben die meuternden Matrosen verstehen –, als ein chaotischer Ausbruch entfesselter verbrecherischer Triebe hingestellt werden. Das Arbeiterpublikum freilich in Deutschland, wie anderswo, wußte sehr wohl, was es von dieser Stimmungsmache zu halten hatte, es ahnte den wahren Zusammenhang der Dinge ungefähr voraus. Jetzt sind wir in der Lage, die Vorgänge in Kronstadt mit der größten Genauigkeit zu schildern. Ein Brief aus Petersburg, den wir nachstehend bringen, gibt eine Darstellung der Kronstädter Tage, die in jedem nicht zur Bestie ausgearteten Menschen das Blut in fieberhafte Wallung bringen. Jawohl! Ausschreitungen des Pöbels, ein wirres Chaos sich austobender verbrecherischer Instinkte, Mord und Plünderung wüteten binnen einiger Tage in der gewaltigen Seefestung, die den Eingang zur zaristischen Hauptstadt bildet, rauchende Trümmer bezeichnen den Weg, den diese monströse Orgie geschritten. Aber der bestialische Pöbel, der diese Orgien feierte, waren nicht die Matrosen, nicht das kämpfende Proletariat Kronstadts, sondern die „Schwarzen Banden“[2], diese Werkzeuge der zaristischen Schandbuben, die unter Mord, Raub, Brandstiftung und Plünderung einen der großartigsten politischen Klassenkämpfe dieser Revolution ersticken und besudeln wollten! … Bei jeder untergehenden Staats- und Gesellschaftsform bilden Korruption und moralischer Verfall eine naturnotwendige Begleiterscheinung. Allein, die Halunken des zaristischen Regiments entwickeln bei ihren letzten Existenzkämpfen eine so beispiellose zynische Niedertracht, daß sich die erbärmlichen Wichte des Ancien regimes und sogar die berühmte Gesellschaft des 10. Dezember von Louis Napoleon[3] gegen sie noch wie eine Galerie antiker Sittenhelden ausnehmen.

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, er gehört zu den Leitartikeln der Chefredakteurin des „Vorwärts“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.

[3] Die Gesellschaft des 10. Dezember war eine 1849 geschaffene und in geheimen Sektionen organisierte bonapartistische Gesellschaft, deren Kern das Pariser Lumpenproletariat bildete. Eine ausführliche Charakteristik gibt Karl Marx in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, siehe MEW, Bd. 8, S. 160 ff.