Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 692

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Petersburg, 10. November. (Eig. Ber.) Die Ereignisse überstürzen sich jetzt dermaßen, daß es fast unmöglich wird, sie zu fixieren. Um Ihnen ein allgemeines Bild von der Lage der Dinge zu geben, wollen wir nach der Reihe einige der wichtigsten Ereignisse näher beleuchten. Oder vielmehr nach der umgekehrten Reihe: Fangen wir mit demjenigen an, was in den letzten Tagen alle Gemüter aufs tiefste erschüttert hat, mit dem grandiosen Aufstand der Matrosen in Kronstadt.

Bereits seit zwei Jahren besteht unter der Marine in Kronstadt eine Organisation der russischen Sozialdemokratie, die sich eines großen Einflusses erfreut und die Agitation systematisch betreibt. Einen besonders tiefen Eindruck auf die Matrosen Kronstadts hat auch seinerzeit die Rebellion der „Potjomkin“-Mannschaft[1] gemacht. Mehrere sozialdemokratische Matrosen aus der Schwarzmeerflotte wurden nach jenen denkwürdigen Ereignissen behufs Schwächung ihres „umstürzlerischen“ Einflusses nach Kronstadt übergeführt, wo sie natürlich die Agitation noch mehr belebten. Schließlich vor kurzem erst ist desgleichen die 18. Garde-Equipage aus Petersburg als eine von dem sozialdemokratischen Gift infizierte nach Kronstadt „isoliert“ worden. Diese Equipage war es auch richtig, die die Losung zum Aufstand gab.

Die jüngste Bewegung wurde eingeleitet durch ein Riesenmeeting, an dem Zehntausende von Matrosen teilnahmen und wo Matrosen gleichfalls als Redner auftraten. Es wurden die besonderen Beschwerden der Matrosen sowie die allgemeine politische Lage des Reiches besprochen. Schließlich wurde eine Liste der Forderungen angenommen, die aus 18 Punkten bestand, darunter: die Verkürzung der Dienstzeit von sieben auf fünf Jahre, die Erhöhung des Gehalts von 22 ½ Kopeken (zirka 50 Pf.) monatlich (!) auf vier Rubel, bessere Verpflegung, menschenwürdige Behandlung seitens der Offiziere, sodann: Rede- und Pressefreiheit, Vereins- und Versammlungsrecht, Gewissensfreiheit, allgemeines, gleiches, direktes Wahlrecht zur gesetzgebenden Körperschaft usw. Die grandiose Versammlung erklärte sich zugleich für die Notwendigkeit, an dem allgemeinen politisch-revolutionären Kampfe des Proletariats in ganz Rußland teilzunehmen, um den Sturz des Absolutismus herbeizuführen. Nach Schluß der Versammlung, in der die begeistertste Stimmung, aber zugleich die größte Ruhe und Ordnung herrschte, formierten sich die Matrosen zu einem Massenzug und marschierten mit sozialdemokratischen Fahnen und Gesang revolutionärer Lieder, immer in der größten Ordnung, durch die Stadt.

An dem Meeting sowie an dem Umzug der Matrosen hatte auch eine Anzahl Artillerie-Soldaten teilgenommen. Gleich darauf wurden aus diesem Grunde von den Militärbehörden Verhaftungen vorgenommen. An die ungeheure Masse der Matrosen

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[1] Der Matrosenaufstand auf dem Panzerkreuzer „Potjomkin“ am 27. Juni 1905 war die erste revolutionäre Massenaktion in der zaristischen Armee und Flotte.