Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 693

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/693

wagte man sich nicht heran, aber 40 Artilleristen sollten nach Petersburg abgeführt und hinter Schloß und Riegel gesteckt werden. Das konnten die Matrosen nicht dulden. Zusammen mit Hafenarbeitern begaben sie sich zum Bahnhof, verhinderten die Abführung der Kameraden von der Artillerie und befreiten sie. Dabei hat zwischen Matrosen und Arbeitern einer- und den Soldaten andererseits eine förmliche Schlacht stattgefunden, die jedoch insofern ziemlich unblutig verlaufen ist, als die Soldaten zumeist selbst schwankend waren und nicht auf die Matrosen feuern wollten.

Als so die Matrosen den Sieg davontrugen und die Haltung auch der Landtruppen als höchst unzuverlässig sich erwies, traten sofort die Organisatoren der „Schwarzen Hunderte“ ins Werk: an der Spitze der als „wundertätiger Priester“ mit dem Hofe und der Hofkamarilla in Verbindung stehende Pope Johann von Kronstadt, mit ihm andere Popen und die höheren Offiziere. Sie fingen eilig an, das Lumpenproletariat, Spitzel, Souteneure, verkleidete Polizisten zusammenzutrommeln. Im Nu kam eine „patriotische Kundgebung“ zustande: vornweg das Zarenbild und singende Popen, hinter ihnen eine Prozession sämtlicher Lumpen und des Abschaums von Kronstadt, die meisten besoffen dank dem von oben erhaltenen Judasgelde. Die fromm-patriotische Prozession endete … mit der Zerstörung der Schnapsläden und der Privathäuser. Die „Ordnungsstützen“ plünderten und stahlen wie Raben.

Diese Lumpenprozession wurde mit offener Absicht direkt gegen einen ruhigen und ordentlichen Umzug der Matrosen und der Hafenarbeiter geführt. Zwischen beiden kam es zu einem Zusammenstoß. Da die Matrosen aber tüchtig auf das Gesindel dreinhieben, wurden schleunigst aus Petersburg zwei Regimenter regulärer Truppen herbeigeholt. Die Lumpen sollten selbstverständlich nur zur Provokation dienen, die Niedermetzelung der Matrosen hatten die Soldaten zu besorgen. Es kamen ein Regiment Dragoner und ein Regiment berittener Garde – mit Maschinengewehren. Doch auch hier wiederholte sich die frühere Erfahrung: Die Truppen schwankten, die Soldaten wollten nicht schießen und ließen sich ohne Widerstand entwaffnen. Auf diese Weise blieb der Sieg auf seiten der Matrosen und der Hafenarbeiter, die sich auch der Maschinengewehre bemächtigt hatten. Aufs äußerste erbittert durch die infame Hetze der Offiziere, die ganz offen die „Schwarzen Hunderte“ aufstachelten, richteten die Matrosen nunmehr die Maschinengewehre gegen das Offizierskasino, eröffneten ein Bombardement auf die Forts und bemächtigten sich eines Panzerkreuzers. Die Lage wurde für die Offiziere und die Popen höchst prekär. Sie verkrochen sich in größter Angst. Zwei Tage lang waren die Matrosen die Herren der Stadt. Und doch passierte in diesen 48 Stunden gar keine Ausschreitung, nicht der geringste Übergriff gegen die friedliche Bevölkerung. Inzwischen hatten aber die Häupter der „Schwarzen Hunderte“ auch ihren Plan ins Werk gesetzt: Plötzlich entstand ein furchtbarer Brand in der Stadt. Das Polizeigesindel hatte an 32 Stellen auf einmal Feuer angelegt. Nicht bloß verkleidete, sondern sogar uniformierte Polizisten wurden dabei gesehen, wie sie Feuer anlegten. Es entstand eine schreckliche Panik,

Nächste Seite »