Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 478

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Wahlkampfrede am 29. Mai 1903 in Kolmar in der Provinz Posen

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Nach einem Polizeibericht

Verehrte Anwesende! Wir befinden uns wiederum vor einem Zeitpunkte der deutschen Geschichte, den Reichstagswahlen. Es ist die Pflicht und das natürliche Interesse eines jeden deutschen Mannes, sich darüber klar zu werden, wem er am Tage der Wahl, am 16. Juni, seine Stimme geben soll. Und das können wir am besten daraus ersehen, wenn wir uns einen kurzen Überblick über die Tätigkeit der Parteien im Reichstage in den letzten fünf Jahren gestatten.

Gerade in den letzten fünf Jahren ist ein großes Verbrechen begangen worden, und dies besteht in der Einführung des Zolltarifs.[2] Schon 1878 hat der sogenannte eiserne Reichskanzler zusammen mit den ostelbischen Junkern ein Komplott gebildet.[3] 1878 ist bereits die Geschäftskrisis, die seit 1873 bestanden hat, mehr oder weniger überwunden gewesen.

In dieser Periode, die zehn Jahre gedauert hat, sollen die Arbeiter Riesenerfolge errungen haben. Wir wissen jedoch, daß dies nichts als freche Lügen sind. Wir wissen, daß der meiste Verdienst in die deutsche Staatskasse geflossen ist. Der Pole und der deutsche Arbeiter haben keinen Vorteil gehabt, es ist ihnen nicht besser, sondern schlechter gegangen. Nach überstandener Geschäftskrisis sind es wiederum die deutschen Arbeiter gewesen, die arbeiten mußten, während die Kapitalisten den Verdienst eingeheimst haben. Dort und da wird dem Arbeiter das Tor vor der Nase zugeschlagen, und er weiß nicht, wo er morgen ein Stückchen Brot für sich und seine Familie hernehmen soll. Es ist nicht etwa Aufwiegelei, wenn man Ihnen sagt, die Löhne gehen überall zurück, es ist die offene nackte Wahrheit.

Man hat berechnet, daß durch die Zollvorlage für eine Arbeiterfamilie von fünf Köpfen jährlich die Steuer um 45 Mark erhöht wird. Freilich, für die Herren „von“ und „zu“ oder für einen großen Industriellen und für unseren Herrn Bernhard Bülow sind 45 Mark eine Lappalie. Wer gibt nicht, wenn er als „Etwas“ gelten will, an einem

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[1] Überschrift der Redaktion.

[2] Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die Erhöhung der Getreide- und Fleischzölle eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes und eines neuen Zolltarifs bekannt geworden waren. Danach sollten enorme Erhöhungen der Agrar- und einiger Industriezölle erfolgen, die für die Mehrheit der Bevölkerung auf eine wesentliche Verschlechterung der Lebenslage hinausliefen. – Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. 3,5 Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegenüber der Vorlage des Bundesrates zur Erhöhung der Getreidezölle begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion kämpfte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 mal das Wort. Zollgesetz und Zolltarif wurden am 14. Dezember 1902 mit 202 gegen 100 Stimmen gebilligt und traten ab 1. März 1906 in Kraft.

[3] Gemeint ist der von Bismarck 1878 eingeleitete innenpolitische Kurswechsel vom wirtschaftspolitischen und allgemein-politischen Liberalismus hin zu Schutzzoll, Konservatismus, Repression gegen die Sozialdemokratie mit dem Sozialistengesetz.