Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 725

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Die Revolution in Rußland

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Die polnische Autonomie und die Liberalen

Moskau, 24. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Das Büro des Semstwo-Kongresses[2] schlug vor, über den Entwurf der Resolution betreffend die polnische Frage zu beraten und stimmte der früheren Entscheidung des Kongresses über die Autonomie Polens rückhaltlos zu. Die besagte Entscheidung habe nicht nur nichts mit einer Loslösung Polens zu tun, sondern sei im Gegenteil nötig, um die Macht und Unteilbarkeit des Reiches zu gewährleisten. Daher entsprächen die in dem Kommuniqué dargelegten Beweggründe für die Einführung des Belagerungszustandes in Polen nicht den wahren Tatsachen. Der Kongreß erachtet als dringende Maßnahmen folgende: 1. Aufhebung des Belagerungszustandes in Polen. 2. Unterbreitung der Frage der Autonomie Polens der ersten russischen Nationalversammlung unter der Bedingung der Einheit des Reiches. 3. Unverzügliche Einführung der polnischen Sprache in den Elementarschulen, in den Gerichten der Gemeinden und bei Verhandlungen vor den Friedensrichtern in Polen. Die Beratungen nehmen heute Abend 10 Uhr ihren Anfang.

Moskau, 25. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) In der gestrigen Sitzung des Kongresses der Semstwos und der Städte wurde die polnische Frage erörtert. Der Redakteur der Zeitung „Oswoboshdenie“ [Befreiung], Struve, verlangt für Polen, wo wie jetzt im Reiche Anarchie herrsche, liberale Verwaltung und Autonomie. Eine fremde Einmischung sei dabei nicht zu fürchten. Alle Russen müssen sie geeint zurückweisen. Fürst Dolgorukow erklärt, die Autonomie bedeute keine Lostrennung, selbst Katkow sei für sie eingetreten. Um Mitternacht wird die Erörterung unterbrochen.

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten. Zum Semstwo-Kongreß Rosa Luxemburg: Die Revolution in Rußland, In: GW, Bd. 6, S. 714 ff.