Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 119

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/119

Aus Frankreich (Das wackelnde Ministerium. – Die Sozialisten und die Dreyfus-Affäre. – Die Streikbewegung [im Jahr] 1897.)

[1]

Es scheint, daß in dem Ministerium Brisson bald ein Wechsel eintreten dürfte, man vermutet nämlich, daß Brisson selbst das Präsidium niederlegen will, was auch angesichts der fatalen Lage, in die ihn Cavaignacs Auftritt in der Dreyfus-Affäre[2] und seine eigene Schwäche versetzt haben, sehr natürlich wäre. Wer sein Nachfolger wird, kann im Augenblick noch nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Die offiziöse Presse poussiert selbstverständlich Cavaignac; die Verhaftung Esterhazys hat nämlich der Partei des Generalstabes Furcht eingejagt, und sie möchte einen Mann an der Spitze des Ministeriums sehen, in dessen Händen die dunkle Affäre sicher ruhen könnte. Andererseits äußert ein Teil der Radikalen den Wunsch, Leon Bourgeois zum Präsidenten zu haben. Sein eventuelles Verhalten zu der Dreyfus-Affäre und somit seine Politik im Allgemeinen läßt sich nicht vorausbestimmen, denn der jetzige Unterrichtsminister hüllt sich einstweilen in bezug auf diese im Vordergrunde des öffentlichen Lebens Frankreichs stehende Frage in absolutes Stillschweigen. –

Die energische Kampagne der „Petite République“ und Jaurès’ gegen die militärisch-klerikale Oligarchie und für die Revision des Dreyfus-Prozesses bringt Früchte: In ganz Frankreich werden von sozialistischen Gruppen Resolutionen angenommen und veröffentlicht, welche sich gegen den „nationalen“ Schwindel und speziell dessen Wortführer Rochefort in schärfsten Ausdrücken wenden und zugleich Jaurès, Gerault-Richard etc. der wärmsten Sympathie versichern. Bis jetzt wurden 541[3] solche Resolutionen gefaßt: 153 in Paris, 87 in dem Weichbild der Hauptstadt, 301 in der Provinz. Dafür haben die Verteidiger des Generalstabes ihrerseits einen wichtigen

Nächste Seite »



[1] Der Artikel ist mit II, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen, versehen. An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der SAZ] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171.

[2] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.

[3] In der Quelle: 543.