Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 638

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Neuer Wortbruch des Zaren

[1]

Die offiziöse russische „Telegraphen-Agentur“ teilt nunmehr die Grundlinien des neuen Wahlrechtsentwurfes mit. Sie meldet: Petersburg, 7. November. Der Ministerrat hat ergänzende Bestimmungen für die Wahlen zur Reichsduma ausgearbeitet. Danach soll das Wahlrecht auch den Mietern übertragen werden, die eine Mietsteuer mindestens der dritten Klasse zahlen; den Kaufleuten, die Gewerbesteuer der zweiten Klasse zahlen, und allen, die das Abgangszeugnis einer höheren Lehranstalt besitzen; den Beamten, die ein Gehalt von mindestens 1200 Rubel in den Hauptstädten, von mindestens 900 Rubel an anderen Orten beziehen; den Eigentümern, die Immobilien im Werte von schätzungsweise mindestens 300 Rubel in Städten bis zu 25000 Einwohnern, von mindestens 1000 Rubel in Städten mit mehr als 25000 Einwohnern besitzen. Die Zahl der Arbeitervertreter wird auf 21 festgesetzt, ungefähr einer auf 250000. Die Wahlen der Arbeitervertreter werden bezirksweise vorgenommen werden. Die Mitgliederzahl der Duma wird auf 600 erhöht. – Der Ministerrat hat die Verhandlungen über die Bestimmungen betreffend die Aufhebung der Präventivzensur für die Presse beendet.

So löst der Zar das Versprechen ein, das er am 30. Oktober feierlich gegeben hat.[2] Damals versprach er: „Die Klassen der Bevölkerung zu berufen, welche jetzt des Wahlrechts völlig entbehren, wobei sodann die weitere Entwicklung des Grundsatzes des allgemeinen Wahlrechts der neuerdings begründeten gesetzgeberischen Ordnung der Dinge überlassen wird.“

Die Heranziehung der bisher rechtlosen Klassen zum Wahlrecht besteht also in der Ausdehnung des Wahlrechts auf die mittleren Klassen des Bürgertums und der Beamtenschaft; das Kleinbürgertum und die unteren Beamten sind vom Wahlrecht nach wie vor ausgeschlossen. Vollends lächerlich ist aber das den 7¼ Millionen Proletariern „verliehene“ Wahlrecht, daß ihnen von 600 Sitzen in der Duma ganze 21 einräumen soll! Dies „Zugeständnis“ ist geradezu eine Verhöhnung der Arbeiterschaft, die im Kampfe um die Freiheit, im Dienste der Kultur so viel edles Blut verspritzt hat.

Daß diese Sorte von „allgemeinem“ Wahlrecht anders als eine unerhörte Provokation aufgefaßt werden wird, hat sich der „liberale“ Herr Witte[3] zweifellos selbst gesagt.

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[1] Mit Sicherheit von Rosa Luxemburg erfaßte Meldungen über Vorgänge in Rußland. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), sind sie unter Nr. 368 verzeichnet.

[2] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.

[3] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.