Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 639

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Wenn der Kampf fortgesetzt wird und es zu neuen Schlächtereien kommt, trägt dieser traurige Staatsmann und Zarengünstling die Verantwortung für das vergossene Blut!

Wittes einzige Stütze

Herr Witte ist sich übrigens nur zu gut bewußt, daß der neue Wahlrechtsentwurf nur einen neuen heftigen Ausbruch der Revolution entfesseln kann. Er rechnet denn auch kaltblütig mit neuen Metzeleien als den selbstverständlichsten Manipulationen. Von der Duma hält er viel weniger als von den bestialischen Aderlässen seines Freundes Trepow[1], des Oberführers der kosakischen Bluthunde, des Anstifters der grauenhaften Judenschlächtereien, des Arrangeurs der Brandstiftungen und Mordexzesse der Zuhälter und der Verbrecherkaste. Wie die „Nowoje Wremja“ [Neue Zeit] berichtet, erklärte Witte den Vertretern der Semstwobüros[2] und Stadtverwaltungen, daß die Regierung irgendeines Teiles der Gesellschaft als Stütze bedürfe. Er gab zu verstehen, daß er auf ein günstiges Ergebnis des am 19. November zusammentretenden Semstwo-Kongresses hoffe; wenn er auch in der Reichsduma kein Allheilmittel sähe, so sei doch gegenwärtig die Berufung der verlangten Konstituierenden Versammlung auf Grund des allgemeinen Wahlrechts unmöglich. Witte wies darauf hin, daß die Zahl derer, die gegen die Reform Opposition machten, sehr zahlreich sei. Der einzige Mensch, der ihn unterstütze, sei – Trepow.

So wird denn die Revolution ihren Fortgang nehmen und zugleich mit dem Schlächter Trepow auch den politischen Hochstabler Witte hinwegfegen!

Die „Ordnungs“-Greuel in Odessa

Nach in London eingelaufenen Telegrammen sollen in Odessa im ganzen 3500 Personen getötet und gegen 12000 verwundet worden sein. Alle Hospitäler, ein halbes Dutzend großer Schulgebäude und viele Kliniken und Privathäuser sind, weiteren Meldungen zufolge, voller Verwundeter. In der Vorstadt Moldawanka lagen Sonnabend von Mitternacht bis Mittag an tausend Leichen und Verwundete auf der Straße. Sie wurden dann von den Behörden aufgelesen und die Leichen in große Massengräber geworfen. Im Judenviertel wurden unglaubliche Greuel verübt, alte Leute, Frauen und Säuglinge wurden massakriert, viele Kinder erwürgt und Hunderte von ihnen lebendig von hohen Häusern aus den Fenstern geworfen. Die Würgebanden Trepows folterten die Opfer zu Tode, indem sie ihnen Nägel in die Köpfe schlugen, die Augen ausdrückten, die Ohren abschnitten und die Zungen mit Zangen ausrissen, vielen Frauen wurden die Eingeweide ausgerissen; alte Leute und Kranke, die sich in Kellern versteckten, wurden mit Petroleum begossen und lebendig verbrannt. Die Rasereien wurden von Polizisten und Soldaten organisiert und geleitet. In den Privatkliniken allein wurden über 300 Kinder an schweren, von Sol-

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[1] Dmitri Trepow war seit 1896 Polizeichef von Moskau und seit April 1905 Polizeiminister.

[2] Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten.