Die Revolution in Rußland
[1]Schlag auf Schlag entladet sich das Revolutionsgewitter über der schwankenden Ruine des Absolutismus. Kaum ist das städtische Proletariat für eine Weile aus der Vorderfront zurückgetreten, um bessere Rüstung, tödlichere Waffen anzulegen, wie auf den ersten Plan des Kampffeldes die Militärrebellion vortritt. Sewastopol in Händen der revolutionären Marine! Hurra! Das Gewitter macht über dem Talkessel des Zarismus einen vollen Kreis: Sewastopol – Odessa – Kronstadt – Wladiwostok – Sewastopol! Der „schlimme Zirkel“ des alten Rußland ist geschlossen, es gibt kein Entrinnen mehr. Und nicht blinde, elementare Protestausbrüche sind es, wie vielleicht auch mancher Sozialdemokrat im Westen denkt: Sewastopol und Odessa sind alte – das Alter zählt jetzt in Rußland nach kurzen Jahren – Hochburgen der sozialdemokratischen Agitation. Auf dem „Potjomkin“[2] führte die Sozialdemokratie das Steuer. Heute stehen organisierte sozialdemokratische Matrosen an der Spitze des Aufstandes in Sewastopol.
Wir erhielten gestern bereits die folgende Privatdepesche: Sewastopol, 26. November, 8 Uhr 40 Min. abends. Soeben fand eine grandiose friedliche Demonstration der Matrosen und Soldaten statt, die eine Besserung ihrer Lage und Entlassung der Reservisten sowie politische Freiheiten fordern. Der Festungskommandant, der auf die Demonstranten zu schießen drohte, ist von den Soldaten verhaftet worden. Die bereits aufgepflanzten Feldgeschütze wurden von den Kanonieren fortgeschafft. Die Situation ist äußerst gespannt, doch erwarten wir angesichts des ernsten und ruhigen Verhaltens der Mannschaften einen friedlichen Ausgang.
Wir teilen unsererseits diese Hoffnung nicht, da die Schergen des Zarismus mit tödlicher Sicherheit auch hier zum Mord und zur Brandstiftung durch Polizeigesindel greifen werden, um die herrliche Bewegung des Militärs unter einer Flut von Schmutz und Verbrechen zu ersticken.
Die offiziösen Depeschen melden: Petersburg, 27. November. Die „Nowoje Wremja“ [Neue Zeit] meldet aus Sewastopol: Auf der Versammlung in den Marinekasernen waren Deputierte vom Panzerschiff „Panteleimon“ (früher „Potjomkin“) und vom Kreuzer „Otschakow“ anwesend; andere auf der Reede liegende Kriegsschiffe ließen die von den Meuterern signalisierte Aufforderung, sich anzuschließen, unbeantwortet.
[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 377 verzeichnet.
[2] Der Matrosenaufstand auf dem Panzerkreuzer „Potjomkin“ am 27. Juni 1905 war die erste revolutionäre Massenaktion in der zaristischen Armee und Flotte.