Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 553

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Ein Opfer des weißen Terrors!

[1]

Abermals hat der fluchbeladene Zarismus ein neues Opfer sich erkoren. Unser Genosse Marcin Kasprzak ist den Märtyrertod gestorben. Das Leben dieses Mannes beschreiben, heißt die Geschichte der Leiden des polnischen Proletariats und seiner Kämpfe beschreiben. Es war ein Leben voll schrankenloser Aufopferung, treuer Hingebung an die Sache der Revolution, kühner Taten. Anfang der achtziger Jahre begann in Posen die Arbeiterbewegung Fuß zu fassen. Gefördert wurde sie damals hauptsächlich von Revolutionären, die aus Russisch-Polen und aus Galizien stammten. Unter den Proselyten der neuen Lehre befand sich Kasprzak, ein einfacher Arbeiter, Dachdecker seines Zeichens. Mit jener stürmischen Leidenschaft, die man oft unter den Polen findet, stürzte er sich in die Bewegung, und seine schlichte Beredsamkeit machte ihn bald zu einem einflußreichen Agitator. Es dauerte indes nicht lange und der jugendliche Stürmer hatte sich in den Fallstricken des deutschen Strafgesetzes verfangen und wanderte wegen Majestätsbeleidigung in den Kerker. Sein leidenschaftliches Naturell verleitete ihn, zu fliehen; die Flucht gelang, aber fortan war für ihn, trotzdem er preußischer Staatsangehöriger war, die öffentliche Tätigkeit in Preußen unmöglich. Kurz entschlossen widmete er sich daher ganz der Sache der Revolution jenseits der Grenze, in Russisch-Polen, der er auch früher schon manchen wichtigen Dienst geleistet. Im Jahre 1887 taucht er in Warschau auf. Es waren heiße Zeiten damals. Es war den Schergen des Zaren gelungen, für eine kurze Zeit Bresche zu legen in die Reihen der polnischen Sozialisten; ihre tüchtigsten Führer waren kurz vorher auf dem Schafott gefallen, Hunderte von Kämpfern waren nach Sibirien geschafft; die Partei war desorganisiert, die Spitzel hatten leichte Arbeit unter den unerfahrenen und ihrer Führer beraubten Arbeitern. Unter diesen Umständen nahm Kasprzak an der unermeßlich schweren Arbeit der Reorganisation der Partei teil und entwickelte dabei geradezu phänomenale Fähigkeiten als Agitator, Organisator, vor allem aber

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, sehr wahrscheinlich aber von Rosa Luxemburg. Er befindet sich als Abschrift in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs, siehe auch S. 19. Rosa Luxemburg versprach Leo Jogiches am 15. September 1905 auch einen Artikel über Kasprzak, den sie ihm am 5. Oktober 1905 schickte. Er sollte polnisch unter dem Titel „Es lebe die Revolution“ in „Z pola walki“, Nr. 12 vom 30. September veröffentlicht werden, erschien aber erst 1906. Siehe GB, Bd. 2, S. 171 und 182. – RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), Nr. 353 u. 390.