Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 554

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kam der Partei sein konspiratorisches Talent zugute. Er war überall und nirgends; Tausende von Arbeitern hatten ihn gesehen und gehört, alle kannten den „Matheus“, wie er sich nannte, aber keiner hätte sagen können, wo er zu finden war. Der „Matheus“ war nahezu zur sagenhaften Gestalt geworden, und in Dutzenden von Fällen, wenn es den Häschern gelang, irgendeinen weniger charakterfesten Arbeiter zu erwischen, hörten diese Häscher seinen Namen nennen: Matheus hatte in einer Versammlung gesprochen, Matheus hatte Broschüren und Flugblätter verteilt, Matheus hatte den Streik organisiert, zu fassen aber war er nicht. Oder doch: Zweimal sollen sie ihn bereits in ihren Händen gehabt haben, aber das Resultat waren nur eingeschlagene Zähne und zerbrochene Rippen bei den Hütern der Ordnung; der herkulisch starke und ungewöhnlich gewandte Mann war entwichen. Fünf Jahre lang setzte er diese furchtbar aufreibende Tätigkeit fort und unter unglaublichen Entbehrungen. Die Partei war zu arm, um ihn regelmäßig mit Geld zu versehen, an regulären Erwerb war nicht zu denken; fand sich Gelegenheit, bei einem Genossen zu übernachten, gut, wenn nicht, nächtigte er unter freiem Himmel; oft genug fehlte selbst der Bissen trockenes Brot, weil es nicht anging, einen Genossen aufzusuchen, wegen der drohenden Gefahr, dann litt er tagelang buchstäblich Hunger.

Und dann kam etwas Entsetzliches. – Jene Partei, der Kasprzak sein Leben gewidmet, wurde sich selbst untreu. Die Kräfte waren wieder einmal aufgerieben, die Arbeiterbewegung für eine kurze Spanne lahmgelegt von der brutalen Gewalt des Zarismus. In einem solchen Moment trug ein Häuflein Flüchtlinge im Ausland den Wirrwarr hinein: Es entstand jenes unklare, pseudo-sozialistische Programm, das als nächste Aufgabe der sozialistischen Bewegung die Wiederherstellung eines polnischen Staates hinstellte, diese unselige Verblendung eines Häufleins unklarer Köpfe war schuld an dem Zerwürfnis zwischen einem Teil der polnischen Arbeiter und der Sozialdemokratie,[1] und heute noch ist diese traurige Episode nicht überwunden, wie der Bericht des deutschen Parteivorstandes über seine Verhandlung mit der PPS in Preußen beweist.[2] Für Kasprzak sollte dieser Vorgang zur Lebenstragödie werden. Er konnte die tolle Schwenkung nicht mitmachen: Er und eine zahlreiche Gruppe von Arbeitern in Warschau blieben dem Programm des Klassenkampfes treu. Das genügte den neuen Usurpatoren, ihn zu bekämpfen, und in diesem persönlichen Kampfe schreckten sie nicht zurück vor dem niederträchtigsten Verbrechen: Kaltblütig denunzierten ihn die gewissenlosen Intriganten als – Spitzel. Ihn, dessen Leben eine ununterbrochene Kette von Kampf gegen den Zarismus war, stellte man hin als einen Spitzel des Zaren! Ihn, der tagtäglich sein Leben in die Schanze schlug, denunzierten feige Buben aus dem Hinterhalt, beschuldigten ihn des furchtbaren Verbrechens! Man male sich aus, was dieser Mann gelitten. Vergebens suchte er die Mör-

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[1] Siehe S. 449, Fußnote 4.

[2] Siehe S. 474, Fußnote 3, aber auch S. 452, Fußnote 9, S. 457, Fußnote 3 und S. 467 ff.