der seiner Ehre zur Rechenschaft zu ziehen. Er ging ins Ausland, forderte ein Ehrengericht, die Schurken wichen aus. Wohl fand er Freunde, die ihm halfen, aber die Verhältnisse waren übermächtig: Immer wieder berief sich die gegen ihn verschworene Bande auf die Verhältnisse in Rußland, die die volle Klarlegung der Anklage verhindern und arbeitete mit bodenlosen Verleumdungen weiter. Es ist ein Verdienst der „Leipziger Volkszeitung“, daß sie bereits vor Jahren dieses politische Verbrechen, das an einem Ehrenmanne vollzogen wurde, gebrandmarkt hat,[1] als selbst in der deutschen Partei jene Verleumdung Glauben fand.[2] Im Jahre 1893 ging der unglückselige, wie ein Wild gehetzte Mann abermals nach Warschau: Er wollte neue Beweise für seine Unschuld herbeischaffen. Hier ereilte ihn das Schicksal; vielleicht hatte er seine frühere Spannkraft eingebüßt, vielleicht war es nur Schuld der Umstände – genug, die Häscher erwischten ihn. Im Kerker wurde er krank: Die furchtbaren Erlebnisse hatten zeitweilig seine Geisteskraft gestört; als Irrsinnigen brachte man ihn ins Krankenhaus. Das war sein Glück, denn alsbald reifte in ihm der Plan zur Flucht und – er entkam. Diese Flucht ist ein Beispiel von schier übermenschlicher Willenskraft und heldenhafter Energie: Er war bei Nacht aus dem Fenster des Krankenhauses gesprungen, nachdem er das Gitter durchfeilt; bei dem Sprunge brach er das eine Bein, ver-
[1] Gemeint ist die Notiz vom 20. August 1895 aus Breslau in der Leipziger Volkszeitung Nr. 193 vom 21. August 1895. Sie lautete: „Unser polnischer Genosse Kasprzak, ein äußerst tüchtiger und entschlossener Mann, der in den großen Sozialistenprozeß in Posen 1888 verwickelt war, aber aus dem Posener Gefängnis mit großer Kühnheit ausbrach, ist in Breslau verhaftet worden. Kasprzak hatte sich damals nackt aus der Zelle gezwängt und war dann an Mauervorsprüngen, Blitzableiterdrähten und Dachrinnen zur Erde gelangt. Über seine Verhaftung schreibt die konservative Schles[ische] Ztg.: ‚Der Schneidermeister Franz Glomb in Breslau machte auf dem Polizeipräsidium Anzeige davon, daß sich bei ihm mit dem Ersuchen um Aufnahme ein im Geruche des Nihilismus und Anarchismus stehender preußischer Pole Namens Martin Kasprzak, früher Dachdecker, dann Schriftsetzer, eingefunden habe. Er habe diesem Manne zwar vor zwei Jahren einmal Unterstand gewährt, wolle dies aber nicht wieder tun.‘ Da nun bei dem hiesigen Polizeipräsidium bekannt war, daß Kasprzak in Posen bald nach dem Antritt einer wegen Verbreitung ‚hoch- und landesverräterischer Schriften‘ gegen ihn erkannten Gefängnisstrafe von zwei Jahren ausgebrochen war, sowie daß Kasprzak auch von dem Berliner Polizeipräsidium gesucht wurde, so schritt man zu seiner Verhaftung. Hierbei stellte sich heraus, daß Kasprzak vor einiger Zeit in Warschau, wo er ebenfalls zu einer Freiheitsstrafe verurteilt war, mit Erfolg ‚den wilden Mann gespielt‘ hatte, um dann von der Krankenstation zu entweichen. Mit Hilfe russisch-polnischer Bauern schlug er sich von Warschau bis zur preußischen Grenze durch, die er heimlich überschritt, um dann den Weg nach Krakau zu nehmen. Von Krakau war er mit der Eisenbahn gestern Vormittag nach Breslau gekommen, und zwar in ziemlich heruntergekommenem Zustande, ohne alles Gepäck, doch nicht ganz ohne Barmittel. Der Verhaftete wird nach Posen transportiert werden.“ Der Denunziant Glomb ist ein – „ehrenwerter Mann“.
[2] Ohne Kommentar hatte die Leipziger Volkszeitung Nr. 203 vom 2. September 1895 eine mehrspaltige Zuschrift des Vorstandes des auswärtigen Verbandes der polnischen Sozialisten vom 26. August 1895 publiziert, in der die Behauptung von der „Spitzeltätigkeit“ Kasprzaks aus der „Gazeta Robotnicza“ Nr. 2 und Nr. 3 vom Dezember 1892 erneut kolportiert wurde. Daraufhin hatte sich Rosa Luxemburg am 2. Oktober 1895 an Robert Seidel mit der Bitte um einen Solidaritätsartikel für Kasprzak in der Züricher „Arbeiterstimme“ gewandt. Siehe GB, Bd. 1, S. 79 f. – auch S. 15 und 21, wo sie im März 1894 mit Leo Jogiches über Kasprzak korrespondierte.