Sozialreform und soziale Revolution
[1]Unter dem Gesamttitel: Die soziale Revolution hat Genosse Kautsky eben im Verlage des „Vorwärts“ zwei Schriftchen herausgegeben, deren eines über Sozialreform und soziale Revolution handelt, während das zweite betitelt ist: Am Tage nach der sozialen Revolution. Beide Schriftchen sind aus Vorträgen entstanden, die Kautsky im April dieses Jahres dem Sozialistischen Leseverein in Amsterdam und Delft gehalten hat, einer vorzugsweise aus Akademikern bestehenden Gesellschaft.[2]
Aus diesem ihrem Ursprung erklärt sich, daß die kleinen Broschüren nicht gerade Agitationshefte im derben Sinne des Wortes sind; um neue Mitglieder für die Partei zu werben, möchten wir sie wenigstens nicht in erster Reihe empfehlen. Aber um so höher steht ihr propagandistischer Wert für diejenigen sozialistischen Kämpfer, die durch das revisionistische Gefackel und Gewackel an den alten sozialrevolutionären Überlieferungen des internationalen Sozialismus irre geworden sind, die sich wirklich haben einreden lassen, daß der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat nicht zu-, sondern abnehme, daß es in jedem modernen Staate genug demokratische Einrichtungen gäbe, um der Arbeiterklasse zu ermöglichen, wenn auch nicht die Macht, so doch Macht zu gewinnen, und diese allmählich, stückweise, nach und nach zu vermehren, so daß jede Notwendigkeit einer sozialen Revolution aufhöre.
Es ist unmöglich, in dem engen Rahmen eines Artikels die historischen Untersuchungen, mit denen Kautsky seine Beweisführung einleitet, auch nur summarisch zusammenzufassen. Er begründet durch sie in überaus treffender Weise den Unterschied zwischen Sozialreform und Sozialrevolution. Maßregeln, die dahin streben,
[1] Die Rezension ist nicht gezeichnet. Auf Rosa Luxemburgs Autorschaft ist mit Sicherheit aus Eduard Bernsteins Beschwerde über die in Kautskys Revolutionsbüchlein gegen ihn gerichtete Polemik zu schließen. Bernstein fügte nämlich hinzu: „Das hat auch die ‚Leipziger Volkszeitung‘ bestätigt in einem Artikel, der unzweifelhaft von einer Person, die Kautsky sehr nahe steht, herrührt, von der Genossin Rosa Luxemburg. Darin ist von ‚Gefackel und Gewackel der Revisionisten‘ die Rede, und es wird gesagt, daß die Kautskysche Broschüre wie ein frischer Wind in den Nebel des Revisionismus hineinfahre. Da war doch eine Provokation vorhanden, darauf zu antworten.“ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei, abgehalten zu Müchnen vom 14. bis 20. September 1902, Berlin 1902, S. 124. Rosa Luxemburg widersprach dem nicht, siehe ebenda, S. 149 f., 154 f. und 161 f. – GW, Bd. 1, 1. Halbbd., S. 281 ff.
[2] Siehe Karl Kautsky: Die soziale Revolution. I. Sozialreform und soziale Revolution, Berlin 1902; II. Am Tage nach der sozialen Revolution, Berlin 1902.