Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 883

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abdruckt. Das Schädliche und Ungehörige dieser fabrikmäßigen Herstellung von Parteimeinungen liegt aber nicht bloß in einer bestimmten Beeinflussung der Richtung, des Standpunktes unserer Presse, sondern in dem geistigen Raubbau überhaupt, der damit an den Hirnen der proletarischen Leser getrieben wird. Welcher Qualität „Geistesprodukte“ auf diese maschinelle Weise unseren Lesern in der Provinz geboten werden, das zeigt wieder ein Artikel, der neulich mit der Chiffre „S.“ oder „St.“ durch einige Blätter ging: „Die deutsche Weltpolitik im Lichte des Auslandes“. Unter diesem tönenden Titel wurde nach einer prätentiösen und dröhnenden Einleitung, deren geschraubt-hohle Stilblüten, wie z. B. „das System der Totschweigekorruption“ und dergleichen, lebhaft an den famosen Schillerartikel aus der Lichterfelder Fabrik erinnerten,[1] eine Übersetzung der Urteile verschiedener Leute über Deutschland aus einer französischen Wochenschrift „Le Courrier Européen“ gegeben. Und wessen Meinungen wurden da dem deutschen Arbeiter als hochwichtige Kundgebungen des „Auslands“ serviert? Die Auslassungen von dem italienischen Professor Lombroso, vom Vizepräsident der königlich historischen Gesellschaft in London Harrison, von einem italienischen Dichter Rapissardi, von einem polnischen Romanschriftsteller und Haupt der katholisch-agrarischen Reaktion Sienkiewicz, von einem russischen Dichterling zehnter Güte und rückständigen Politikaster Boborykin, noch von einem „Direktor“ (ob Zirkusdirektor oder einer Aktiengesellschaft wird nicht gesagt), von ein paar anderen Professoren usw. Dieses aus aller Herrenländer zusammengetragene Ragout aus „Urteilen“ von lauter Leutchen, die vielleicht in diesem oder jenem Fach ganz brave Spezialisten, in der Politik jedoch durch die Bank miserable Musikanten, wo nicht notorische Reaktionäre sind, und vor allem Leutchen, die in ihren Vaterländern genau so wenig politische Bedeutung genießen wie der durchschnittliche deutsche Professor bei uns, die politisch nichts hinter sich haben als das eigene Sitzfleisch, dieser Leute Meinungen werden dem deutschen Arbeiter als der Weisheit letzter Schluß, als die Meinung „des Auslandes“ über Deutschland eingetrichtert. Selbstverständlich sind denn auch „die Urteile“ ganz danach: eine Sammlung von sinnlosen Phrasen, hohles Geschwätz, dessen einzige „Würze“ darin liegt, daß es mit vielsagenden und höchst „revolutionären“ Gedankenstrichen über das persönliche Regiment in Deutschland gespickt ist.

Nun ist doch die Frage am Platze: Sind denn die sozialdemokratischen Blätter wirklich dazu da, um den Arbeitern ein solches leeres Stroh als geistige Nahrung zu verabreichen? Auf dieses Niveau muß aber die Presse, müssen die Artikel herabsinken, wenn sie eben fabrikmäßig, geistlos, mechanisch „en gros“ hergestellt werden! Freilich sind unsere Provinzredakteure meistens derart mit Arbeit überbürdet, daß man diese Verwendung von Artikel-Korrespondenzen als Notbehelf begreift. Aber erinnern

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[1] Siehe [Friedrich Stampfer]: Schiller. In: Volksbote (Stettin), Nr. 107 vom 9. Mai 1905. Abgedruckt in: Schillerdebatte 1905. Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären deutschen Sozialdemokratie. Hrsg. und eingel. von Gisela Jonas, Berlin 1988, S. 231 ff.