Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 610

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aller Macht durch eine Generalattacke der heiligen Dreieinigkeit: Kavallerie, Infanterie, Artillerie unter tätiger Hilfe des Abschaums der Bevölkerung zu erdrücken und niederzumachen, – das war allem Anschein nach der fein ersonnene Plan des Zarismus. Eine Junischlächterei[1] à la Cosaque – auf russische Manier –, das war wohl das eigentliche Ziel des zaristischen „Verfassungsmanifestes“.

Und nun sieht man erst, wie das Mahnwort der Sozialdemokratie: Nicht abrüsten! Kampf auf der ganzen Linie bis zum äußersten! sich glänzend bewährt. Die Arbeiterschaft hat durch ihre Schlagfertigkeit und entschlossene Ablehnung des Schwindelmanifestes die Begeisterung in weiten Volkskreisen sofort gedämpft, jeder Schwankung vorgebeugt, ihre eigene Kampfposition befestigt. Tote und Verwundete bedecken zu Hunderten das Pflaster im zaristischen „Verfassungsstaat“, aber politisch ist der Sieg auf seiten des Proletariats. Es hat sich den Platz an der Spitze des unzufriedenen Volkes behauptet, der Kampf geht weiter, der neueste blutige Rettungsversuch des Absolutismus ist platt zu Boden gefallen. Es war wohl das letzte „Manifest“ des letzten Zaren, das noch für einige Stunden Vertrauen und Hoffnung in gewissen Volksschichten erweckt hat. Und sein Werk war nur, daß es vor dem eigenen Bankrott ein früheres Schwindelwerk desselben Zarentums begraben hat: die Bulyginsche Duma-Verfassung[2]. Das „Beruhigungsmittel“ wider die Revolution hat lediglich ein neues gewaltiges Auflodern der Revolution entfacht, – das ist die bekannte alte Logik der letzten Rettungsversuche aller verfallenden Staats- und Gesellschaftsformen.

Der allrussische Massenmord

Petersburg, 2. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Wie aus Poltawa unterm 1. November gemeldet wird, haben dort Kosaken eine Anzahl Leute angegriffen, die friedlich vor dem Gefängnis versammelt waren, wohin der Polizeimeister sie hatte zusammenrufen lassen, damit sie der versprochenen Freilassung von politischen Häftlingen beiwohnten. Eine Anzahl Personen wurde schwer, mehrere tödlich verwundet. Einige Personen wurden getötet. 28 Verwundete wurden nach dem Krankenhause gebracht, andere in ihre Wohnungen. Große Furcht und tiefe Erbitterung herrschen bei der Bevölkerung. Aus mehreren anderen Städten, namentlich aus Bial/ystok, Kiew und Pskow wird gemeldet, daß dort Unruhen durch Truppen blutig unterdrückt wurden.

Petersburg, 2. November. Die „Petersburger Telegraphen-Agentur“ meldet aus Minsk unter dem gestrigen Datum: Eine etwa 10000 Personen zählende Volksmenge veranstaltete heute eine Kundgebung vor dem Gefängnis und verlangte unter Drohung, das Gefängnis zu stürmen, die Freilassung der politischen Gefangenen. Als

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[1] Im Juni 1848 hatte sich das Pariser Proletariat gegen die französische Bourgeoisie erhoben, weil sie die Nationalwerkstätten schließen ließ. Etwa 113000 Arbeiter waren dadurch ohne Arbeit und Einkommen. Bourgeois, Kleinbürger und Monarchisten waren gegen den Aufstand vorgegangen, der nach drei Tagen von der militärischen Übermacht blutig niedergeschlagen wurde.

[2] Am 19. August 1905 hatte die zaristische Regierung ein vom Innenminister Alexander Bulygin verfaßtes Gesetz für die Wahlen zu einer Reichsduma erlassen. Danach war die Duma nur als beratendes Organ vorgesehen, und die Wahlen sollten nach dem Ständeprinzip und nach einem festgelegten Vermögenszensus vollzogen werden. Die Industriearbeiter waren völlig und die Bauern fast gänzlich von den Wahlen ausgeschlossen.