Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 611

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/611

die Menge hierauf vor dem Bahnhofe ihre Demonstrationen erneuerte und die Soldaten herausforderte und Revolverschüsse auf sie abgab, wurde sie durch eine Salve auseinandergetrieben. Eine Anzahl Personen ist hierbei getötet und verwundet worden.

Plündernde Soldaten und Polizisten

Petersburg, 1. November. Die „Petersburger Telegraphen-Agentur“ meldet aus Kasan: Plünderung und Blutvergießen herrschten heute auf der Moswenskajastraße. Es wurde gegen das Bezirksgericht und den Schachklub geschossen, wobei eine Anzahl Personen verwundet wurden, auch viele Gymnasiasten wurden verletzt. Blutlachen bedecken hauptsächlich vor dem Priesterseminar den Schnee. Wilde Verwüstungen, denen die Läden zum Opfer fielen, fanden spät am Abend statt, als nur noch Polizei und Kosaken auf den Straßen waren. Die telephonischen Hilferufe der Ladeninhaber an die Polizeiverwaltung blieben ohne Erfolg. Ein Augenzeuge bestätigt, daß die Soldaten plünderten und daß der Gehilfe des Polizeimeisters auf ihn zu schießen drohte, als er dazwischen trat, um dem Unwesen Einhalt zu tun. Viele Läden, Privathäuser und selbst öffentliche Gebäude sind von Kugeln durchlöchert. Es ist unmöglich, festzustellen, wer die Bewegung geleitet hat, doch besteht Gewißheit, daß man die Polizeimannschaften und die Kosaken ohne Plan und bestimmte Weisung vorgehen ließ. Sie schossen blindlings ohne jede Herausforderung auf friedliche Fußgänger in den Straßen. Im Semstwo-Hospital liegen 25 Verwundete. Die Entrüstung des Publikums ist allgemein, selbst bei überzeugten Konservativen, die das Vorgehen der Polizei aufs schärfste verurteilen, bei der keinerlei Autorität vorhanden sei. Die Mitglieder des Gemeinderates begaben sich zum Gouverneur. Dieser erklärte, daß der Polizeimeister seine Entlassung eingereicht habe und die gerichtliche Untersuchung gegen ihn eingeleitet sei. Die Truppen und die Kosaken sind aus den Kasernen fortgebracht worden, und die Gemeindeverwaltung konnte eine Miliz organisieren. Die Verhafteten wurden wieder in Freiheit gesetzt. Eine große Menschenmenge begab sich nach der Polizeistation, nahm die dort befindlichen Waffen weg und brachte sie nach dem Rathause.

„Konservative“ Provokationen

Moskau, 1. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Die sozialdemokratischen Redner erblicken einen vollkommenen Sieg erst in der völligen Befriedigung aller politischen Forderungen. Sammlungen zum Zweck der Bewaffnung der Volksmilizen sind im Gange. In der Stadt veranstalten die Liberalen (?) Umzüge mit roten Fahnen, wobei sie revolutionäre Lieder singen. Die Konservativen (d. h. die „Schwarzen Banden“[1] der Polizei)

Nächste Seite »



[1] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.