Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 612

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mit Fahnen in den Nationalfarben und dem Bilde des Kaisers veranstalten unter Absingung der Nationalhymne gleichfalls Kundgebungen. Gestern kam es zwischen solchen Umzügen beim Iwerskaja-Tore zu einem Streit, bei welchem die Konservativen von den Liberalen, welche Schüsse abgaben, in die Flucht gejagt wurden. Zu einem Zusammenstoß kam es auch in der Mjasnitzkajastraße zwischen einer Anzahl von Druckern einerseits und Dragonern und Kosaken andererseits. Zehn von den Manifestanten wurden mit blanken Waffen verwundet. Die Menge veranstaltete ferner Kundgebungen vor der Technischen Schule, wo die Witwe des Tierarztes Bauman durch Schüsse, welche auf die um den Sarg Baumans versammelte Menge abgegeben wurden, getötet wurde.

Eine „Amnestie“ unter Blutströmen

(Privatdepesche des „Vorwärts“.)

Warschau, 2. November. Gestern Vormittag fanden große Volksversammlungen statt, die zuerst polizeilich unterdrückt wurden. Hierbei wurden sieben Personen erschossen und mehrere verwundet. Nachmittags wurden die Patrouillen zurückgezogen. Alsbald zogen große Volksmengen singend durch die Straßen. Es wurden unter allgemeinem Jubel sozialdemokratische Reden gehalten und Aufrufe verteilt. Volk und Militär waren brüderlich vereinigt. Abends war die Stadt illuminiert. Ein großer Zug erschien auf dem Theaterplatz, die Theatervorstellung wurde unterbrochen und das Orchester spielte auf dem Balkon des Theaters. Die Menge wandte sich an den Polizeimeister Meyer mit der Forderung um Freilassung der wegen politischer Vergehen Verhafteten. Es wurden 400 Personen freigelassen, die Menge verlangte aber die Freilassung aller und nahm eine drohende Haltung ein. Plötzlich erschienen Kosaken und drangen mit blanker Waffe auf die Volksmenge ein, 16 Personen wurden getötet, 23 schwer und mehrere leicht verwundet. Entsetzliche Szenen spielten sich ab.

In Südrußland und im mittelasiatischen Rußland

Petersburg, 2. November. (W.T.B.)[1] Aus Rostow am Don wird gemeldet, daß ein gestern durch die Geistlichkeit gemachter Versuch, die Gemüter durch eine kirchliche Prozession zu beruhigen, erfolglos geblieben ist. Die Ausschreitungen werden immer ernster; die Plünderung dauert fort und die Stadt befindet sich in den Händen des Volkes. Fortgesetzt wird geschossen. Die Krankenhäuser füllen sich mit Verwundeten und Toten; das Betreten der Straßen ist gefährlich; einige Häuser stehen in Flammen.

Aus Kasan wird gemeldet, daß sich dort eine aus 400 Studenten und Arbeitern bestehende Miliz gebildet hat, die Waffen trägt, welche der Polizei fortgenommen sind. Während der Nacht durchzogen Miliztruppen die Straßen. Die Ruhe wurde nirgends gestört.

Aus Kurgan und Taschkent wird gemeldet, daß das Militär friedliche Manifestanten mit Waffengewalt auseinandertrieb, wobei viele Personen verwundet wurden.

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[1] Wolffs Telegraphisches Büro.