Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 613

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Judenmetzeleien

Petersburg, 2. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Aus mehreren Provinzstädten, namentlich Rostow am Don, Kiew, Nowgorod und Cherson, sind heute Depeschen hier eingegangen, welche melden, daß sich bei der Bevölkerung eine wachsende Erbitterung gegen die Juden bemerkbar mache. Man beschuldigte die Juden, daß sie sich vaterlandsfeindlich verhielten, durch politische Agitation Ruhestörungen hervorriefen und die revolutionäre Bewegung veranlaßt hätten und leiteten. Juden gehörige Häuser und Läden in den genannten Städten wurden geplündert und teilweise in Brand gesetzt. Viele Personen wurden getötet, beziehungsweise verwundet.

Petersburg, 2. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Die Plünderung der Häuser und Läden der Israeliten in den Hauptstraßen von Nowgorod geschah infolge einer von Juden (d. h. der sozialdemokratischen Arbeiterschaft) veranstalteten Kundgebung. Die Juden waren mit roten Fahnen in der Stadt umhergezogen und hatten revolutionäre Reden gehalten.

Kiew, 1. November. Die Judenhetze hier begann Dienstag Mitternacht. Die Häuser am Markt wurden niedergebrannt. Nicht ein einziger jüdischer Laden blieb verschont. Der Pöbel raubte aus den Läden die Waren, woran sich selbst die Polizisten beteiligten. Die Plünderungen begannen am Mittwochabend von neuem. Die Juden schießen von den Balkonen ihrer Häuser auf die Truppen und die sogenannten Loyalen (d. h. den plündernden Janhagel), die das Feuer erwidern. Der Pöbel drang gewaltsam in einige Häuser ein und warf die Juden auf die Straße hinab. Diese drohen mit blutiger Vergeltung gegen die Christen am Donnerstag. Die Wohnhäuser einer Anzahl reicher Juden, darunter die des Barons Ginsburg und der bekannten Industriellen Brodski, Seitsew und Epstein, wurden demoliert.

Der Kampf geht weiter auf der ganzen Linie

Moskau, 1. November. (Meldung der „Petersburger Tel[egraphen]-Agentur“.) Heute wurden hier zahlreiche Versammlungen abgehalten, in denen das Manifest des Kaisers kritisiert und ausgesprochen wurde, daß es keine genügenden Garantien gäbe. Man ist ausnahmslos der Ansicht, daß es notwendig sei, die unbedingt erforderlichen Garantien zu gewinnen, die besonders unter dem Druck von Ausständen erreichbar seien. Die sozialdemokratischen Redner erblicken einen vollkommenen Sieg erst in der völligen Befriedigung aller politischen Forderungen. Sammlungen zum Zweck der Bewaffnung von Volksmilizen sind im Gang.

Riga, 2. November. Das gestrige große Meeting, welchem mit so großer Besorgnis entgegengesehen wurde, war von etwa 50000 Personen besucht; es verlief ruhig. Es wurde beschlossen, den Generalstreik mit Ausnahme des Lebensmittel-Handels bis zur erfolgten Garantierung der durch das Manifest angekündigten Zugeständnisse fortzusetzen. – Gestern lief der erste Eisenbahnzug aus Petersburg ein.

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