Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 864

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unglückt, begründet ist. In derselben Nacht entgleisten bei Narwa hintereinander zwei nach Petersburg fahrende Güterzüge. Die Wagen der Züge wurden zerstört. Auch hier war der Unglücksfall böswillig herbeigeführt.

Überfall auf eine Kreiskasse

Warschau, 28. Dezember. In der Nacht zum 27. Dezember organisierten die Revolutionäre einen bewaffneten Überfall auf die Staatskreiskasse in der Kreisstadt Wysokie-Mazowieckie, Gouvernement L/omz˙a. Während der Ausführung der Tat wurde der ganze Markt durch 80 Mann besetzt gehalten. Die Polizei flüchtete, Militär war nicht anwesend, nachdem am 24. d. M. die einzige Rotte, welche bisher die Garnison der Stadt ausmachte, nach Riga ausmarschiert war. Den schwachen Widerstand, den einige Nachtwächter leisteten, brachen die Revolutionäre mit Waffengewalt. Die Kassentür wurde mit Pyroxilin in die Luft gesprengt und 486000 Rubel geraubt, davon 20000 in Gold, 300000 in Papiergeld, 160000 in Silber. Dann flüchteten die Täter in fünf verschiedene Richtungen, teils mit der Bahn, teils zu Pferde. Ein Polizist, der einen von ihnen verfolgte, wurde getötet. Die Telgraphenleitungen waren vorher durchgeschnitten worden.

Die Aufnahme des neuen Wahlgesetzes

Die „Russische Korrespondenz“ erhält aus Petersburg vom 27. Dezember nachts folgendes Telegramm: Einer der einflußreichsten Führer der Semstwoleute, Fürst Peter Dolgorukow, charakterisiert das Wahlgesetz als einen lächerlichen Versuch der Regierung, die gezwungen ist, der öffentlichen Meinung nachzugeben, trotzdem den Anschein eines selbständigen Auftretens zu behalten. Es ist ein Erzeugnis einer Schwächlichkeit, die es nicht gewagt hat, die aus der Stimmung der Nation notwendigen Schlüsse zu ziehen. Im Vergleich zum Wahlgesetz vom 6. August[1] ist das neue ohne Zweifel sehr demokratisiert, aber es ist in so ungeschickter, verdrehter Weise getan, daß die Gefahr eines Boykotts seitens revolutionärer Parteien in keiner Weise verschwunden ist. Dieser Umstand ist um so gefährlicher, da die revolutionäre Stimmung des Volkes in letzter Zeit sehr gewachsen ist, was die Moskauer Ereignisse auch beweisen. Semstwo-Vertreter und Konstitutionell-Demokratische Partei[2] werden wohl in die neue Duma gehen, aber nur, um dieselbe zum Mittelpunkt eines Kampfes um politische Umwälzung im Geiste wirklicher Freiheit und Demokratisierung zu machen. In höheren Kreisen herrscht in bezug auf die Moskauer Ereignisse eine sehr pessimistische Stimmung.

Diese Anschauung ist um so wichtiger, als Dolgorukow die Anschauungen eines großen Teiles der Semstwopartei wiedergibt.

Vorwärts (Berlin),

Nr. 303 vom 29. Dezember 1905.

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[1] Am 19. August 1905 hatte die zaristische Regierung ein vom Innenminister Alexander Bulygin verfaßtes Gesetz für die Wahlen zu einer Reichsduma erlassen. Danach war die Duma nur als beratendes Organ vorgesehen, und die Wahlen sollten nach dem Ständeprinzip und nach einem festgelegten Vermögenszensus vollzogen werden. Die Industriearbeiter waren völlig und die Bauern fast gänzlich von den Wahlen ausgeschlossen.

[2] Pawel Miljukow war der Führer der Konstitutionellen Demokratischen Partei (KD), umgangssprachlich Kadetten genannt, einer liberalen Partei, die für eine konstitutionelle Monarchie bzw. später für die Republik eintrat. Ihr gehörten progressive Gutsbesitzer, Vertreter des Mittelbürgertums und der bürgerlichen Intelligenz an.