Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 540

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gend“, mit polnischen und russischen Aufschriften (da auch russische Studenten zur Sozialdemokratie Polens gehören).

Man setzte sich in Bewegung. Unterwegs machten wir einige Male Halt, die Redner bestiegen die „Tribüne“ auf den Schultern anderer und hielten Ansprachen. Der Zug war inzwischen auf über 20000 Köpfe gewachsen. Vor dem Witkowski-Platz begegneten wir einer Patrouille aus Polizisten und Ulanen. Der Zug machte mittendurch einen freien Durchgang für die Patrouille, die ruhig durchgelassen wurde, wir aber marschierten ruhig weiter. An der Ecke der Zl/otastraße hielt eine Genossin, Arbeiterin, eine Ansprache über die Bedeutung des politischen Kampfes und der politischen Freiheit. Die Worte der Frau wurden enthusiastisch aufgenommen. An einer anderen Stelle sprach ein Redner über die Märtyrer unseres Kampfes, besonders den in der Zitadelle schmachtenden Genossen Marcin Kasprzak,[1] dessen Name von den vielen Tausenden ausgerufen wurde. Hier schaute ruhig eine Patrouille berittener Garde zu, als die Menge aber in revolutionäre Ausrufe ausbrach, entfernte sie sich eilig. Vor der Kaserne machte der Umzug Halt. Die Soldaten fingen an, die Fenster zu schließen, aber beruhigt durch das friedliche Verhalten der Masse öffneten sie sie wieder. Dann hielt ein Genosse, über der Masse erhoben und zu den Fenstern gewendet, eine Ansprache an die Soldaten in russischer Sprache. Er sprach über die Ziele der Arbeiterbewegung, über die Verbrechen der Zarenregierung und forderte die Soldaten auf, sich der Arbeiterbewegung brüderlich anzuschließen. Die Soldaten nahmen die Rede freundlich auf, einige grüßten mit den Köpfen, schwenkten die Mützen und riefen laut: „Doloj Samodershawie!“ [Nieder mit der Selbstherrschaft!] und „Da sdrastwujet swoboda!“ (Es lebe die Freiheit!) Darauf die Menge begeistert auf Russisch: „Doloj Zarja!“ [Nieder mit dem Zaren] und: „Schießt nicht auf Eure hungernden Brüder!“ Und mit jubelndem Gesange der „Roten Fahne“,[2] mit leuch-

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[1] Siehe S. 553 ff.

[2] Gemeint ist das Arbeiterlied „Die rote Fahne“, das ursprünglich als ein Lied der Pariser Kommunarden unter dem Titel „Le drapeau rouge“ nach einer Erinnerungskundgebung an die Kommune am 18. März 1877 in Bern entstanden ist. Es wurde rasch populär und in mehrere Sprachen übersetzt. Am meisten verbreitet war die folgende Fassung:

Des Volkes Blut verströmt in Bächen,

und bittre Tränen rinnen drein,

doch kommt der Tag, da wir uns rächen,

:/: dann werden wir die Richter sein! :/:

Stimmet an den Gesang! Nun, wohlan!

Die Fahne trägt des Volkes Grollen

über Zwingburgen stolz himmelan.

Stimmet an den Gesang! Nun, wohlan!

Der Freiheit Morgenrot bricht an.

Rot ist das Tuch, das wir entrollen,

:/: klebt doch des Volkes Blut daran! :/:

Wohl knüpft ihr knechtisch finstern Schergen

vergeblich das zerrißne Seil.

Das Schlechte fault in dumpfen Särgen,

:/: das Gute siegt, der Welt zum Heil! :/:

Stimmet an den Gesang…

Tod Euch, den Henkern, den Despoten!

Die alte Niedertracht zerfällt.

Wir pflügen um den alten Boden

:/: und bauen eine neue Welt. :/:

Stimmet an den Gesang…

Auf Brüder, scharet euch zum Heere,

die Brust vom gleichen Geist durchweht!

Wo ist die Macht, die einem Meere,

:/: die unsrer Sturmflut widersteht? :/:

Stimmet an den Gesang…

Zu dieser Fassung hieß es 1911: „Unbekannt. 1905“. Seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde ohne Begründung Rosa Luxemburg als Übersetzerin genannt. Nach neuesten Forschungen bleibt es bei der Feststellung von Jósef Kozl/owski, daß man bisher auf kein Zeugnis für die Übersetzung durch Rosa Luxemburg gestoßen sei. Siehe Erhard Hexelschneider: Rosa Luxemburg und die Künste. In: Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 3, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2007, S. 203 ff, insbesondere S. 203 f. und 213.