Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 290

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Die Reaktion kann so wenig stille stehen wie die Revolution; sie muß sich fortwälzen, bis sie ihren Höhepunkt überschritten hat. Und wenn das Zentrum sich von der Reaktion mitreißen läßt, so wird es aus ihrem Banne nicht mehr herauskommen.

Wenn die Arbeitermassen mit den „gemilderten“ Bestimmungen einer Zuchthausvorlage gequält werden, wenn die Lasten für Heer und Flotte sich bis zur Unerträglichkeit steigern, dann schwindet das Vertrauen der „katholischen“ Arbeiter zum Zentrum wie der Schnee vor der Märzensonne. Dann wird es einmütig heißen, daß man bei den Wahlen die der Reaktion dienenden Parteien für ihre volksfeindlichen Taten züchtigen müsse – und dann ist das Zentrum reif für die Scharfmacher und die Beutepolitiker. Dann wird man seine Furcht vor den Wählermassen benutzen und den Versuch machen, dem allgemeinen Wahlrecht an den Kragen zu gehen und mit dem kärglichen Rest unserer öffentlichen Freiheiten vollends aufzuräumen. Die Angst macht blind, und da die sich so schlau dünkenden Zentrumsmannen vor der Rache ihrer Wähler Angst haben werden, so kann es leicht kommen, daß sie die einzige Rettung darin suchen, um so kräftiger am Strang der Reaktion zu ziehen.

Dann nimmt man den Arbeitern außer dem Koalitionsrecht auch das Wahlrecht, die bürgerlichen Parteien behalten in den Parlamenten vollkommen die Oberhand, die unbequemen Sozialdemokraten werden nicht mehr gewählt und können die schöne Idylle in den Parlamenten nicht mehr stören, die sich dann jahraus jahrein dort abspielt, indem die Vertreter der herrschenden Klassen sich in die Riemen teilen, die sie aus der Haut des Volkes geschnitten haben. Das Volk ist als mitwirkender Faktor aus der Politik gestrichen und hat nichts, aber auch gar nichts mehr zu sagen; es hat zu zahlen und zu schweigen.[1]

So rechnet man sich in den reaktionären Zirkeln das Fazit der Zukunft aus und in manchem junkerlichen, pfäffischen und Bourgeoisgehirn mögen üppige Phantasieblasen aufquellen von der schönen Zeit, da man nicht mehr durch den Alarmruf der Sozialdemokratie aus dem Schlaf geschreckt wird.

Allein diese Rechnung hat ein großes Loch. Parteien ohne Volk schweben in der Luft und das Volk, dessen Arbeit mit Kopf und Händen die Werte schafft, ohne welche die Gesellschaft nicht zu bestehen vermag, kann man heute nicht mehr von der

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[1] Wilhelm II. hatte während seiner Nordlandreise im Sommer 1899 zu den Hintergründen der „Zuchthausvorlage“ und eines rigorosen Kurses erklärt: „Der deutsche Bürgerstand versagt vollkommen! Die Regierung muß handeln, sonst geht alles verloren. Wenn bei einem ernsten Konflikt nach außen die Möglichkeit gegeben ist, daß die Hälfte der Armee durch einen Generalstreik im Lande gefesselt ist, so sind wir verloren… Es ist daher an der Zeit einzuschreiten. Ich habe mich bereits informiert, wie weit meine militärischen Befugnisse gegenüber der Staatsverfassung reichen. Es hat der Kriegsminister mir gesagt, daß ich jederzeit den Belagerungszustand über das ganze Reich erklären kann (!!!). Ehe nicht die sozialdemokratischen Führer durch Soldaten aus dem Reichstag herausgeholt und füsiliert sind, ist keine Besserung zu erhoffen. Wir brauchen ein Gesetz, wonach es genügt, Sozialdemokrat zu sein, um nach den Karolinen verbannt zu werden.“ Zitiert nach: Bernhard Fürst von Bülow. Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatssekretariat bis zur Marokko-Krise. Hrsg. von Franz von Stockhammern, Berlin 1930, S. 349.