In dieser letzten Konsequenz springt der Unsinn in die Augen. Der Ruf nach unbedingter Meinungsfreiheit innerhalb einer Partei führt notwendig zu ihrer Auflösung; es ist weiter nichts als der Ruf nach Aufhebung aller Schranken, die den Mitgliedern einer Partei durch die Parteigrundsätze auferlegt werden. Nun gibt es freilich auch eine letzte Konsequenz nach der anderen Seite hin: Eine Partei, die sich auf Grund einer gemeinsamen Überzeugung gebildet hat, kann diese Überzeugung in so enge und starre Formeln fassen, und den buchstäblichen Glauben an diese Formel so kategorisch von ihren Mitgliedern verlangen, daß man ihr mit Recht eine große Engherzigkeit und Unduldsamkeit, obgleich auch dann noch nicht eine unzulässige Unterdrückung der Meinungsfreiheit vorwerfen kann. Denn das Recht, solche Mitglieder, die mit ihren Zielen und Zwecken nicht oder nicht mehr einverstanden sind, von sich auszuschließen, hat sie immer. Aber dies[es] Extrem bestraft sich selbst, wie jenes andere Extrem, mit dem Untergange der Partei, die ihm verfiele. Eine Partei, die in einem bisschen Buchstabenkram erstarrt, ist ebenso verloren, wie eine Partei, die sich zum Tummelplatz für allen möglichen Krethi und Plethi hergibt.
Die Sozialdemokratische Partei hat sich von ihren Anfängen an vor dem einen wie vor dem anderen Extrem gehütet. Es ist ihr großer Vorzug vor den bürgerlichen Parteien, und speziell vor den liberalen Parteien, den eigentlichen Hütern der Gedankenfreiheit, daß sie den wirklichen Sinn dieses bürgerlichen Ideals zu erkennen und praktisch zu verwirklichen vermag, während jene Parteien den Extremen verfallen sind, von denen wir sprechen. Die Nationalliberale Partei ist ein politischer Tanzsaal für jedermann geworden, die Freisinnige Partei ein heimliches Konventikel hinter verschlossenen Türen, das an die dürren Formeln eines manchesterlichen Papstes gebunden ist. Daß gerade diese Parteien sich über den angeblichen Meinungsterrorismus innerhalb der Sozialdemokratischen Partei lustig machen wollen, das ist wirklich Humor, wenn auch kein freiwilliger.
Die Meinungsverschiedenheiten, die nun schon seit manchem Jahre innerhalb der Sozialdemokratischen Partei aufeinander gestoßen sind, haben ihr festes Gefüge noch nicht einen Augenblick erschüttert. Das kommt daher, daß in ihr wirkliche Gedankenfreiheit herrscht, daß sie weder ein Taubenschlag noch ein Glaubensstall, daß ihr Programm weder ein papierener Papst noch eine wächserne Nase ist. Ihre Grundsätze sind fest und klar, aber auch entwicklungsfähig genug, um sich stets aktionsfähig zu erhalten, bei aller Meinungsfreiheit, die sie ihren Mitgliedern gewährt.
Dieser Vorzug, den sie vor allen anderen Parteien besitzt, wurzelt darin, daß sie allein die historische Entwicklung in ihren wirklichen Zusammenhängen zu erkennen vermag. So gleitet ihr Schiff einer neuen Welt entgegen, mit sicherem Kompaß, aber mit einem Segelwerk, das sich den wechselnden Winden anzupassen vermag.
Leipziger Volkszeitung,
Nr. 221 vom 24. September 1902.