Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 447

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Die plumpe Finte, die dabei unterläuft, deckt Genosse Parvus in der neuesten Nummer seiner „Weltpolitischen Korrespondenz“[1] sehr richtig mit den Worten auf: „Man verwechselt den politischen Zwang mit dem logischen Zwange, der sich für jene ergibt, die eine gemeinsame Überzeugung haben.“ Oder noch schärfer ausgedrückt: die sich auf Grund einer gemeinsamen Überzeugung in einer gemeinschaftlichen Organisation zusammenschließen. Kein Mensch ist gezwungen, sich der Sozialdemokratischen Partei anzuschließen, aber wohl ist die Sozialdemokratische Partei berechtigt, von jedem, der sich ihr freiwillig anschließt, diejenige Gesinnung zu verlangen, auf Grund deren sie eine gemeinschaftliche Organisation bildet, und demgemäß auch, ihn von sich auszuschließen, wenn er im Widerspruch mit den Prinzipien handelt, die ihr geistiges Knochengerüst bilden. Auf dies[es] Recht kann keine Organisation verzichten, die überhaupt handeln, schaffen und wirken will. So verwerflich es ist, wenn die katholische Kirche mit den ihr noch immer verbliebenen Gewaltmitteln fremde Meinungen unterdrückt, so sehr ist sie in ihrem Rechte, wenn sie diejenigen ihrer Mitglieder ausschließt, die nicht mehr ihre Meinungen teilen. Niemand ist verpflichtet, der katholischen Kirche anzugehören; jeder kann aus ihr austreten, wenn es ihm beliebt. Nichts einfacher also und nichts berechtigter, als daß die katholische Kirche diejenigen Mitglieder, die ihren Glaubensartikeln widersprechen, nun auch aus ihrer Gemeinschaft ausschließt.

Wir haben gerade das Beispiel der katholischen Kirche angezogen, weil es gewöhnlich gebraucht oder gemißbraucht wird, um einen sonst sehr klaren Zusammenhang zu verdunkeln. Sobald eine Gemeinschaft, die sich auf Grund einer gemeinsamen Überzeugung freiwillig gebildet hat, solche Mitglieder von sich ausschließt, die anderer Überzeugung sind, ertönt sofort das Geschrei über „Bannbullen“ und „Exkommunikation“. Die katholische Kirche hat ihren üblen Ruf in dieser Beziehung durch Jahrhunderte lange Verbrechen an der Meinungsfreiheit freilich reichlich genug verdient, und der Abscheu vor diesen Gewalttaten wirkt so nachhaltig fort, daß jene Schlagworte auch noch da auf die Massen wirken, wo sie mit dem größten Unrecht angewandt werden.

Um noch einmal Parvus zu zitieren, so sagt er: „Die Meinungen sind frei, deshalb sind mir keineswegs alle Meinungen gleich, sofern ich selbst eine habe.“ Dies ist in der Tat der springende Punkt. Gerade die wirksamsten Vorkämpfer der Meinungsfreiheit, ein Voltaire, ein Lessing, haben ihr[en] Lebtag in ununterbrochenem Kampfe mit den Meinungen anderer Leute gelebt. Die Meinungsfreiheit, deren Mangel die bürgerliche Presse der Sozialdemokratischen Partei in tendenziöser Weise vorwirft, führt in ihrer letzten Konsequenz dahin, daß diese Partei allem möglichen politischen Gewimmel, dem Antisemitismus, dem Spiritismus, der Himmel weiß wem sonst noch ihre Pforten öffnen soll. Unterdrückt sie nicht die Meinungsfreiheit, wenn sie solchen Leuten nicht gestattet, innerhalb ihrer Reihen jede beliebige Schrulle zu propagieren?

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[1] Die Privatkorrespondenz von Parvus (Alexander Helphand) und Richard Etzold „Aus der Weltpolitik. Wochenkorrespondenz für die sozialistische Arbeiterpresse“ erschien seit 1899 in München.