Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 186

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wollte Bernstein mit seinen Untersuchungen über die Probleme des Sozialismus beweisen? Doch nicht die billige Wahrheit, daß wir unsere Taktik nach den jeweiligen Verhältnissen einrichten müssen? Unsere Taktik hängt auch gar nicht allein von den jeweiligen augenblicklichen Verhältnissen ab, sondern ebenso sehr von unseren Grundsätzen, von unseren allgemeinen Anschauungen. Das scheint heute nicht allgemein anerkannt zu sein, angesichts der heiligen Scheu mancher Leute vor dem sich ‚festlegen‘, das heißt vor dem Bekennen fester Grundsätze, aber Bernstein wird der Letzte sein, der das leugnen wird. Ändern sich unsere Grundsätze, so muß sich also auch unsere Taktik ändern; nicht nur jeder besonderen Situation, sondern auch jeder besonderen theoretischen Auffassung entspricht eine bestimmte Taktik, oder wenn man lieber will, entsprechen bestimmte taktische Grundsätze. Und einer bestimmten Theorie, die allgemeine Geltung für ein bestimmtes gesellschaftliches Gebiet hat, entsprechen auch allgemeine taktische Grundsätze für dieses Gebiet. So hatte das ‚Kommunistische Manifest‘ das westliche Europa im Auge; Engels in seinem Vorwort zu den ‚Klassenkämpfen in Frankreich‘ das ganze Europa; Bernstein spricht in seinen Artikeln über die Probleme des Sozialismus und in seiner Stuttgarter Erklärung ganz allgemein von der kapitalistischen Gesellschaft; und so entspricht auch jeder dieser Enunziationen [Erklärungen] eine bestimmte Taktik für die europäische resp. die internationale Arbeiterbewegung überhaupt. Wenn Bernstein also eine neue, von der des ‚Kommunistischen Manifestes‘ verschiedene Theorie der sozialen Entwicklung aufstellt, so sucht er damit eine neue Taktik für Deutschland ebenso wohl wie für die anderen Länder der kapitalistischen Produktionsweise zu begründen. Sollte das nicht auch ein ‚Vorschreiben des Weges für die deutsche Sozialdemokratie‘ sein? Dem entspricht es, daß Bernstein besonderen Nachdruck auf die Revision der Taktik legt, die Engels in seinem Vorwort zu den ‚Klassenkämpfen in Frankreich‘ angeblich forderte.“[1]

Bernstein geht nach Kautsky fehl, wenn er sich auf Engels beruft. Die Ausführungen Engels’ hatten doch eine lebhafte Zustimmung in der Partei gefunden, während diejenigen Bernsteins ganz anders aufgenommen wurden. Dies rühre daher, weil Engels tatsächlich in seinem Vorwort zu den „Klassenkämpfen“[2] bloß die alte Taktik der deutschen Sozialdemokratie den romanischen Völkern empfohlen habe, während Bernstein die Taktik der deutschen Arbeiter einer Revision unterziehen wolle.

„Bernstein geht auf der einen Seite hinter Engels zurück und auf der anderen Seite über ihn hinaus. Er geht hinter Engels zurück, wenn er es heute noch für notwendig hält, einem deutschen Parteitage die Richtigkeit der Engelsschen Auffassung zu demonstrieren, daß die Zeit der insurrektionellen Handstreiche und der glücklichen Straßenkämpfe mit dem Militär vorbei sei. Er geht aber auch über Engels hinaus, wenn er an dem ‚Kommunistischen Manifest‘ eine Kritik übt, wie sie Engels nie geübt

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[1] Karl Kautsky: Taktik und Grundsätze. In: Vorwärts, Nr. 240 vom 13. Oktober 1898.

[2] Siehe Friedrich Engels: Einleitung [zu Karl Marx’ Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850 [1850)]. In: MEW, Bd. 22, S. 509–527.