Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 187

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hat und geübt hätte. Das ist Bernsteins gutes Recht, aber damit tritt er für eine Taktik ein, die sich mit der von Engels empfohlenen keineswegs deckt. So weit sein Standpunkt dem von Engels entspricht, wird Bernstein keinen Widerspruch in der Partei finden. Der Widerspruch beginnt erst dort, wo er darüber hinausgeht.“[1]

Nun sei freilich richtig, daß Bernstein eine bestimmte neue Taktik nicht empfohlen habe. Dies sei auch einer der Gründe gewesen, weshalb Kautsky nicht sofort in der „Neuen Zeit“ auf die Artikel Bernsteins antwortete. „Ich wartete“ – sagte er – „immer auf noch mehr, sie schienen mir unvollständig, weil sie zu keinem positiven Resultat gelangten, weil sie die Grundlagen unserer bisherigen Taktik umstürzten, ohne Neues an deren Stelle zu setzen. Und diese Unvollständigkeit ist wohl auch der Grund, warum die Bernsteinschen Artikel so vielfach als das Produkt eines müden Pessimismus und Skeptizismus erschienen.

Was Bernstein nicht selbst tat, mußten nun seine Kritiker tun: die Konsequenzen seines Standpunktes ziehen. Und da bin ich zur Überzeugung gelangt, daß, wie die einzigen Tatsachen, auf die Bernstein einigermaßen sich stützen kann, wenn er über Engels hinausgeht, England entstammen, so auch diejenige Taktik, die notwendig wird, wenn der Bernsteinsche Standpunkt der richtige, die englische ist, d. h. die Taktik der englischen Trades-Unions und der Fabier.

Und diese Auffassung wird nicht schon dadurch widerlegt, daß Bernstein erklärt, er sei kein Doktrinär der Taktik.“[2]

Ferner läßt sich Kautsky darüber aus, wie ungeeignet die polemische Form, in der Bernstein seine Artikel gegen Bax und viele andere Parteischriftsteller schreiben mußte, dazu sei, einen vollständig neuen Standpunkt zu entwickeln, ohne Mißverständnisse hervorzurufen, und zum Schlusse fordert er Bernstein auf, im Interesse der Diskussion seine Ansichten, sei es in einer Artikelserie in der „Neuen Zeit“ oder in einer Broschüre, systematisch darzulegen.

Zu den Ausführungen des Genossen Bernstein möchten wir unsererseits folgende Bemerkungen machen:

1. Wenn Bernstein sich darüber verbreitet, daß „die Erlangung der politischen Herrschaft durch die Sozialdemokratie in Deutschland“ heute ein Ding der Unwahrscheinlichkeit sei, wenn er von Gefahren spricht, welche „die Vorstellung von einem nahe bevorstehenden Zusammenbruch der ganzen bürgerlichen Gesellschaft in sich birgt“, so rennt er offene Türen ein. Sollte seine ganze Theorie bloß eine Warnung vor überspannten Hoffnungen auf die nächste Zukunft sein, so müßte man sich fragen: Was in aller Welt hat den Anlaß zu dieser Warnung gegeben? Bernstein dürfte kaum in der Lage sein, auch nur einen einzigen Beweis dafür zu erbringen, daß die deutsche Sozialdemokratie sich durch Spekulationen auf einen über Nacht bevorste

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[1] Karl Kautsky: Taktik und Grundsätze.

[2] Ebenda.