henden Zusammenbruch der Gesellschaft von dem Wege eines ruhigen und besonnenen täglichen Kampfes habe abbringen lassen. Tatsächlich bestritt aber Bernstein in seinen Artikeln in der „Neuen Zeit“[1] nicht das nahe Bevorstehen, sondern die Wahrscheinlichkeit selbst eines Zusammenbruches der bürgerlichen Gesellschaft. Er bezweifelte nicht das rasche Tempo der kapitalistischen Entwicklung, sondern den ganzen Gang dieser Entwicklung, wie er durch den wissenschaftlichen Sozialismus zum Grundstein unseres Programms geworden ist. Worauf seine Ausführungen also tatsächlich hinausliefen, war nicht die Verlangsamung des Schrittes, in dem wir zum Ziele marschieren, sondern der Verzicht auf das Ziel selbst – auf die Eroberung der politischen Macht und die Verwirklichung des Sozialismus.
2. Was Bernstein über die kluge Taktik der österreichischen und der belgischen Sozialdemokratie sagt, ist gleichfalls sehr zutreffend und sogar sehr allgemein bekannt. Es fragt sich aber wiederum, was bringt ihn darauf, der deutschen Sozialdemokratie diese Beispiele vorzuhalten. Die österreichischen und belgischen Genossen behaupteten bis jetzt, daß sie sich in ihrem Kampfe gerade die Taktik der deutschen Sozialdemokratie zum Muster nahmen.
3. Wenn endlich Genosse Bernstein im Schlußwort seines Artikels sagt: „ob der Arbeiterklasse durch die Verkettung verschiedener Umstände im Kampfe um politische Rechte die politische Herrschaft zufällt, kann niemand voraussagen“,[2] so wirft er mit diesem einen Satz den ganzen Artikel, der aus lauter sozialdemokratischen Selbstverständlichkeiten besteht, über den Haufen. Für wen der schließliche Sieg der Arbeiterklasse ein Ding, das „niemand voraussagen kann“, also ein Ding des Zufalls ist, der steht nicht auf dem Boden der gesetzmäßigen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, für den entbehrt der Emanzipationskampf der Arbeiterklasse überhaupt jeder materiellen Basis.
Mit einem Wort, der letzte Artikel Bernsteins bietet, wie die früheren, manch Gutes und Neues. Schade, daß das Gute nicht neu, schade, daß das Neue nicht gut ist.
[1] Siehe Eduard Bernstein: Probleme des Sozialismus. Eigenes und Übersetztes. In: Die Neue Zeit, Jg. XV, 1896/1897, Erster Band, S. 164 ff., 204 ff., 303 ff. und 772 ff.; ders.: Probleme des Sozialismus, ebenda, Zweiter Band, S. 100 ff. und 138 ff.; ders.: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft. In: Die Neue Zeit, XVI. Jg., 1897/98, Erster Band, S. 484 ff., und 548 ff.; ders.: Kritisches Zwischenspiel, ebenda, S. 740 ff. Redaktionelle Anmerkung der Neuen Zeit: „Eine Diskutierung der Bernsteinschen Ideen erscheint uns daher erst dann zweckmäßig, wenn die von ihm begonnene Artikelreihe abgeschlossen ist.“ Ebenda, S. 740. Eduard Bernstein: Das realistische und das ideologische Moment im Sozialismus. Probleme des Sozialismus, 2. Serie II, ebenda, Zweiter Band, S. 225 ff. und 388 ff.
[2] Vorwärts, Nr. 240 vom 13. Oktober 1898.