II
Die „Leipziger Volkszeitung“ hat in fünf trefflichen Artikeln unter dem Titel „Glossen zum Parteitage“[1] die Verhandlungen des Parteitages in Stuttgart kritisch beleuchtet. In dem Schlußartikel erklärt sie den tiefliegenden Grund der taktischen Meinungsverschiedenheiten, die in der Partei bestehen, in folgender Weise:
„Ursprünglich eine reine Arbeiterpartei, hat sie durch ihre ehrliche und konsequente Politik immer größere Scharen kräftiger Elemente aus anderen, namentlich aber aus den kleinbürgerlichen Bevölkerungsschichten an sich gezogen, hat sie bei dem gänzlichen Verfalle der bürgerlichen Opposition mehr und mehr alle Aufgaben einer bürgerlichen Demokratie mit auf ihre Schultern nehmen müssen.
Diese Entwicklung rückgängig zu machen oder auch nur zu beklagen, kann höchstens Toren einfallen. Hätte sich die Partei dagegen gesperrt, wie sie es nie auch nur einen Augenblick getan hat, so hätte sie den ersten Schritt zu ihrer sektenmäßigen Verkrüppelung gemacht. Aber mit dieser Entwicklung kamen auch Gegensätze in die Partei, insofern als bei allem ehrlichen Bekenntnis zum Parteiprogramm die einen die Dinge doch immer etwas anders ansahen als die anderen. Sich ganz über die sozialen Bedingungen hinwegzusetzen, unter denen man aufgewachsen ist, unter denen man arbeitet und wirkt, vermag kein Mensch; selbst zwischen so großen Meistern des abstrakten Denkens, wie Lassalle und Marx waren, machten sich bei aller prinzipiellen Übereinstimmung doch taktische Gegensätze geltend, die sich auf die sozialen Bedingungen zurückführen lassen, unter denen sie gearbeitet und gelebt haben. Solche Gegensätze hat es seit langem in der Partei gegeben; sie müssen ertragen werden, und die Warnung, die Greulich in Stuttgart vorm ‚Absägen‘ aussprach, war vielleicht nicht so notwendig, wie sie berechtigt war. Sie können aber auch ertragen werden, ja sie werden das Parteileben viel eher erfrischen und stärken als hemmen und versumpfen, wenn sie anders im richtigen Schwergewicht zueinander stehen.“[2]
Das richtige Schwergewicht sieht der Verfasser darin, daß „der große Brummbaß in dem vielstimmigen Orchester der deutschen Sozialdemokratie“ von dem Industrieproletariat gespielt wird.
„Noch wird er von ihm gespielt, aber die Gefahr droht, daß er in Hände gerät, die ihn nicht spielen können.“ Der Einfluß, den die Vertreter der „praktischen Politik“ des kleinbürgerlichen Elements in der Partei errungen haben, geht über das ihnen nach der sozialen Parteigliederung gebührende Maß hinaus. Ein besonders günstiger Umstand für diese Richtung liegt nach dem Verfasser darin, daß der „Vorwärts“ „seine Aufgabe als führendes Organ bekanntlich darin sieht, nicht zu führen“. Dadurch sind 250000 Genossen in Berlin, die proletarisch-revolutionäre Kerntruppe der Partei, nicht in der Lage, ihren Einfluß in die Waagschale der Parteitaktik zu wer