Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 547

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für die Partei war, sich der Leichen der ermordeten Arbeiter zu bemächtigen, die in verschiedenen Orten lagen und von der Polizei bewacht wurden. Schließlich gelang es, fünf Särge in der Brzezin´skastraße zusammenzubringen, und von hier aus begann der Zug. Schon am Anfang zählte er 25000 Personen. An der Spitze wurden die Fahnen getragen, eine schwarze und zwei rote Fahnen der Sozialdemokratie. Der Zusammenstoß mit den Kosaken schien unterwegs an mehreren Stellen unvermeidlich, und einmal brach schon in einer Gruppe des riesenhaften Zuges die Panik aus. Aber die Masse war so entschlossen und fest, daß sie nicht einen Schritt zurückweichen wollte. Um die Erschrockenen und Schwankenden wurden sofort Rufe laut: „Nicht zurückweichen! Wie eine Mauer stehen!“ Und der Zug bewegte sich mit Gesang der „Roten Fahne“[1] und revolutionären Rufen weiter. Die Haltung und Stimmung der ungeheuren Masse im Zuge, der an jeder Straßenecke eine Patrouille Soldaten und Polizei kreuzte, war überhaupt bewundernswert. Als der Kopf des Zuges bereits in den Friedhof einmündete, mußte der Zug, weil der Friedhof nur einen Teil der Menge aufnehmen konnte, Halt machen, und das benutzten die Redner der Sozialdemokratie sofort zu zwei Agitationsreden: über die politische Lage und die Aufgaben der Revolution und über die Stellung der Sozialdemokratie zu den Soldaten. Die Reden wurden mit brausender Begeisterung aufgenommen. Auf dem Friedhof selbst wurde noch eine sozialdemokratische Rede über die Haltung des Klerus in der gegenwärtigen Revolution gehalten. Schließlich wurden die Fahnen zusammengerollt, und die Masse zerstreute sich truppweise ohne Zwischenfall.

Über das Blutbad des folgenden Tages berichtet uns eine zweite Korrespondenz: Łódź, 21. Juni. (Eig. Ber.) Mit furchtbarer Genauigkeit wiederholte sich heute hier das Schicksal der Warschauer Maidemonstration[2]: Wir sind vom Militär in tückischster Weise in eine Falle gelockt worden! Heute sollte nämlich noch eins von den Opfern der Schlächterei am Sonntag begraben werden. Die Arbeiterschaft war schon vor 6 Uhr nachmittags in unzähligen Tausenden in der Altstadt versammelt. Nun stellte es sich heraus, daß die Polizei sich nachts der Leiche bemächtigt und [sie] in aller Stille begraben hatte. Die Arbeiterschaft geriet bei dieser Nachricht in Erregung. Die Partei wollte angesichts des vereitelten Begräbnisses von der Demonstration Abstand nehmen, doch wollten die versammelten Massen vom Auseinandergehen nichts hören. Der Zug setzte sich also in Bewegung. In der Franziskanerstraße wurden die Fahnen entfaltet. Unterwegs strömten immer neue Massen zu, bald war fast das ganze proletarische Łódź im Zuge versammelt, und die Begeisterung kannte keine Grenzen. Unterwegs suchten die Militärpatrouillen absichtlich uns überall aus dem Wege [zu] gehen, sogar die Polizei zeigte freundliche Mienen und nickte uns zu mit den Köpfen.

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[1] Siehe S. 540, Fußnote 3.

[2] Siehe S. 526 und 527 f.