Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 592

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uns nicht nur als Offiziere der Armee, sondern auch als Menschen beschimpft und erniedrigt und durch ihre Furcht, Taktlosigkeit, Niederträchtigkeit und Gemeinheit ihrer Seele uns beleidigt und sich nur im Moment der äußersten Verwirrung und Kopflosigkeit hinter unseren Bajonetten und Kanonen versteckt. Ist denn eine solche Regierung unserer Unterstützung wert; eine Regierung von Polizisten, eine Regierung der Gewalt, der Willkür, des Raubens und des Mordens? Kameraden, genug! Besinnt Euch, erinnert Euch, wie man uns jede Minute auf Schritt und Tritt malträtiert. Es genügt die Andeutung irgendeines Halunken von Gendarmen oder Polizisten, daß das Publikum ‚unruhig‘ sei, um uns demonstrativ auf die Straßen zu führen zur Beschimpfung und Vergewaltigung der gegen die Regierung erbitterten Menge, die dann ihren Haß gegen uns zum Ausdruck bringt; man hält uns ununterbrochen unter Waffe, macht uns wild die unkontrollierbare Macht der Polizei, die uns nach ihrem Belieben behandelt, als ob wir ihre Bediensteten und zwar solche ohne Ehre und Schamgefühl wären. Kameraden! Die in Verwesung geratene Leiche des Kolosses Selbstherrschaft können wir nicht wieder beleben und alle unsere Bajonette sind Null im Verhältnis zu dem Volksknüttel. Wollen wir also das Ende der Selbstherrschaft nicht abwarten und, solange es nicht zu spät ist, auf die Seite der Wahrheit, des Rechts, des niedergedrückten Volkes übergehen. Das Wohl des Volkes ist unser Wohl, das Glück der Nation ist unser Glück, ihr Unglück ist unser Unglück. Wollen wir also unseren jüngeren Brüdern die Hand reichen und den gemeinsamen Feind, Beleidiger und Bedrücker gemeinsam vertreiben. Kameraden, frisch auf!“ –

Zaren-Einholung oder Flottendemonstration

Eine Privatdepesche aus Kiel meldet uns: Die „Schleswig-Holst[einische] Volksztg.“ meldet: Die dritte Torpedobootsdivision sowie der Turbinenkreuzer „Lübeck“ und Kreuzer „Hamburg“ erhielten gestern Nachmittag durch kaiserliche Kabinettsorder die Anweisung, sich zur Abreise bereitzuhalten. Der Kreuzer „Hamburg“ und die Torpedoboote sollen in Peterhof die Zarenfamilie abholen; der Kreuzer „Lübeck“ soll in Memel stationiert werden, um die Verbindung aufrechtzuerhalten. Die Zarenfamilie soll nach Kiel gebracht werden.

Diese Aufsehen erregende Meldung ist inzwischen auch mehreren Berliner Blättern zugegangen. Nur besagt eine Lesart, daß die Flottille zum Schutze der deutschen Botschaft abgegangen sei, denn sie ist bereits in See gestochen.

Die Absendung der deutschen Hilfsflotte, von der man nicht weiß, ob sie erbeten war oder ob sie eigener Initiative entspringt, läßt die Lage in Rußland im düstersten Lichte erscheinen. Ist es schon so weit gekommen, daß der „Admiral des stillen Ozeans“ durch fremde Schiffe vor dem Grimme seines Volkes in Sicherheit gebracht werden muß? Übrigens ist es sehr wahrscheinlich, daß sich der Zar in Kopenhagen noch sicherer fühlen wird als in Kiel.

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