Wir möchten aber doch eine Vermutung nicht unterdrücken. Vielleicht wird der Zweck der Flottenentsendung völlig verkannt, da es sich möglicherweise gar nicht um die Rettung des Zaren handelt, sondern um eine Flottendemonstration wegen der frechen Mißhandlung der beiden Deutschen durch jenen dreisten Grenzkosaken, der dann später auch noch den die Untersuchung führenden Landrat zu verhaften drohte!
Freiheitsopfer
Odessa, 30. Oktober. Es ist unmöglich, die Zahl der Opfer bei den gestrigen Unruhen auch nur annähernd festzustellen, da es den Friedhofs- und Krankenhausverwaltungen streng untersagt ist, eine Auskunft zu erteilen. Die Polizei schafft selbst überall die Leichen und die Verwundeten fort, deren Zahl sehr bedeutend sein muß. Die Behörden hegen zur Infanterie kein Vertrauen und behalten sie in den Kasernen; sie verwenden nur Kosaken und Gendarmerie. Von einer Barrikade herab rief ein Student herbeieilenden Kosaken zu, sie sollten, anstatt auf ihre um die Freiheit des gemeinsamen Vaterlandes kämpfenden Brüder zu schießen, sich lieber den Kämpfern anschließen. Die Kosaken antworteten darauf mit vier Salven, wodurch neun Personen getötet und ungefähr 40 verwundet wurden. Die nach Hunderten zählenden unverletzt gebliebenen übrigen Personen stürzten darauf, von den Kosaken verfolgt, in die nächsten Häuser, drangen in die fremden Wohnungen ein oder versteckten sich auf den Böden und Dächern. Viele Privatwohnungen sind auf diese Weise in Ambulanzen verwandelt.
Kiew, 29. Oktober. Trotz der Drohung des Generalgouverneurs, die Stadt zu beschießen, dauert die revolutionäre Bewegung fort. Bei der Universität fand ein Zusammenstoß zwischen Militär und einer großen Volksmenge statt. Über 1000 Personen wurden verwundet. Der Führer der radikalen Partei, Advokat Ratner, wurde verhaftet. Die Nachrichten aus der Provinz lauten alarmierend. In Poltawa soll es zu großem Blutvergießen gekommen sein.
Wachsende Gärung
Moskau, 28. Oktober. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Die große Erregung der Bevölkerung hält an. Heute Vormittag erzwangen die Kommis die Schließung aller Läden mit Ausnahme der kleinen Kolonialwarengeschäfte. An mehreren Stellen kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, besonders am Iwerskaja-Tor, bei denen viele Personen verwundet wurden. Die Universität ist verbarrikadiert und wird von bewaffneten Studenten beschützt; im Innern des Gebäudes hält sich eine Schar Studenten zum Eingreifen bereit, falls ein reaktionärer Volkshaufe aus dem Flecken Ochotny, der bereits heute Vormittag Studenten angefallen und mißhandelt hat, seinen Angriff erneuern sollte. Der Telefonverkehr in der Stadt hat aufgehört. Die Mitglieder mehrerer Theater beteiligen sich an dem politischen Ausstand. Auf Befragung der Stadtverwaltung haben Delegierte der Arbeiter sich bereit erklärt, dafür zu sorgen, daß der Betrieb des städtischen Wasserwerks wieder aufgenommen wird, aber unter der Bedingung, daß die Arbeiter