Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 659

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Petersburg, 9. November. Über Kronstadt liegt ein dichter Rauchschleier, durch den hindurch man Feuersgluten schwelen sieht. Acht Militärdepots in der Seefestung stehen in Flammen. Es ist unmöglich, in die Stadt einzudringen. Die Telegraphenpfähle sind auf eine Entfernung von sechs Kilometern vor Kronstadt umgerissen. Die Telefonverbindung ist unterbrochen. Die letzte telefonische Meldung war die Mitteilung, daß ein Dampfer mit 150 Matrosen, die wegen Beteiligung an den Unruhen während der verflossenen Woche in Petersburg verhaftet worden waren, eingetroffen sei. Die Überweisung dieser Matrosen an die Marinebehörden in Kronstadt war die letzte Amtshandlung des Generals Trepow[1]. Die Matrosen überwältigten auf der Fahrt jedoch die Bewachungsmannschaften, und völlig in der Gewalt der Aufrührer, lief der Dampfer unter roter Revolutionsflagge in Kronstadt ein. Soldaten und Matrosen versammelten sich in dichten Scharen, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Dann vereinigten sich alle zur Erhebung gegen die Beamten und Offiziere des Zaren, und zwei Stunden später war Stadt und Festung Kronstadt völlig in ihrem Besitz.

London, 10. November. Wie der Petersburger „Times“-Korrespondent aus vertrauenswürdiger Quelle erfährt, beschießt die Besatzung des vor Kronstadt liegenden Kriegsschiffes die Kosaken am Ufer. Die Forts unterhalten ein ungeregeltes Feuer. Man nimmt an, daß einige von ihnen ebenfalls gemeutert haben. Der Winterpalast wird eiligst für die Aufnahme des Zaren instand gesetzt, da die Umgegend von Kronstadt für unsicher gilt.

Der Zarismus dementiert und „beruhigt“

Kronstadt, 9. November. (Meldung der „Petersburger-Telegraphen-Agentur“.) Die Telegramme über Unruhen sind sehr übertrieben. Die Brände in der Stadt sind gelöscht. In den Straßen patrouillieren Abteilungen von Infanterie, Artillerie und Kosaken. Unruhen erneuern sich nicht. Meutereien, die vom Gesindel angestiftet werden, werden energisch unterdrückt.

Petersburg, 9. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Aus allen Teilen des Landes kommen beruhigende Nachrichten. Der Gouverneur von Moskau hat einen Aufruf an die Bevölkerung gerichtet, in welchem er zur Ruhe ermahnt und erklärt, er könne sich das Recht nicht nehmen lassen, Verschwörer zu bestrafen, und er sei entschlossen, die Ordnung aufrechtzuerhalten. In Kelzy ist der Eisenbahnverkehr wieder hergestellt. In Wolsk ist eine Kommission gewählt worden, welche eine Untersuchung wegen der Vorgänge der letzten Tage anstellen soll. In Irkutsk sind die Schulen wieder geöffnet; die Straßen sind noch mit Militär besetzt. Der Ausstand in Mariinsk ist beendet. In Theodosia herrscht Ruhe; die Läden sind geöffnet. Die Schulen in Kiew werden am 14. November wieder geöffnet werden. Nachrichten über völlige Wiederherstellung der Ruhe kommen aus allen Städten

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[1] Dmitri Trepow war seit 1896 Polizeichef von Moskau und seit April 1905 Polizeiminister.