Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 242

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/242

eintretenden „Allgemeinen Konföderation der Arbeit“ wird über die geringe Zugkraft der Generalstreik-Idee auf die Masse geklagt. Das war auch der Fall auf dem vor drei Wochen in Rennes abgehaltenen Kongreß.[1] Trotzdem aber wurde der vorgefaßten Idee zuliebe der Versuch gewagt, die Pariser Streiks in einen – in den Generalstreik umzuwandeln.

Der Versuch mußte enden mit einem in der Gewerkschaftsgeschichte beispiellosen Mißerfolg. Der Streikappell des Landesverbandes der Metallarbeiter und der Streikbeschluß des Vorstandes der Eisenbahner-Gewerkschaft wurden selbst von den Gewerkschaftsmitgliedern einfach mißachtet. Besonders hart rächte sich der Generalstreik-Fanatismus an dem Eisenbahner-Vorstand bzw. an dessen leitendem Generalsekretär Guèrard. Nur ein ganz verschwindendes Häuflein Eisenbahner legte die Arbeit nieder. Selbst die Mehrheit der Lokalgruppen – und das sind nach den Erklärungen des Vorstandes gerade die stärksten –, die soeben auf Anfrage des Vorstandes sich für den Streik ausgesprochen hatte, führte ihren eigenen Beschluß nicht aus. Kurz, drei Tage nach dem Streikbeschluß, am 16. Oktober, mußte der Vorstand den nicht stattgefundenen Streik für beendet erklären. Der Vergleich liegt nahe mit einem Generalstab, dessen Mobilmachungsbefehl auf dem Papier bleiben würde…

Der Vorgang erscheint besonders charakteristisch, wenn man bedenkt, daß die Eisenbahner-Gewerkschaft auf ihrem im April d. J. abgehaltenen Kongreß den Vorstand bevollmächtigt hatte, im geeigneten Augenblick den Generalstreik zu erklären, ohne die einzelnen Gruppen zu befragen, und daß dieser Beschluß von den nur allzu berechtigten Beschwerden der Eisenbahner diktiert war. (Diese sind kürzlich in der „Sächs[ischen Arb[eiter]-Ztg.“ des Näheren auseinandergesetzt worden.)[2]

Woran liegt nun der Mißerfolg des Streikbeschlusses? Es wäre eine gefährliche Illusion, dafür einzig oder auch nur hauptsächlich die terroristischen Maßregeln der Regierung, die Haussuchungen beim Vorstand und die gleichzeitige militärische Besetzung aller größeren Bahnhöfe, verantwortlich zu machen. In der französischen Bourgeoisrepublik ist ja das Eingreifen der „nationalen“ Armee zu Gunsten der Unternehmer eine ständige Erscheinung bei jedem größeren Ausstand. Jedenfalls aber kann der Regierungs-Terrorismus nicht schon den bloßen Ausbruch, den Beginn des von der Mehrheit selber beschlossenen Streiks verhindert haben. Das kann nur durch eine organische Schwäche der Gewerkschaft erklärt werden, sowie in zweiter Linie durch die Ungunst der allgemeinen politischen Situation. Eine so weittragende gewerkschaftliche Angriffsaktion, wie ein Eisenbahnerstreik mitten in einem Massenstreik der hauptstädtischen Bauarbeiter, läßt sich am wenigsten durchführen in einem Augenblick, wo auf politischem Gebiete die schlimmste Reaktion in der klerikal-

Nächste Seite »



[1] In Rennes fand vom 26. September bis 1. Oktober 1898 der Congrès syndicaux de la Conféderation génerale du travail, [der Allgemeinen Konföderation der Arbeit], statt.

[2] Siehe Rosa Luxemburg: Die Pariser Streikbewegung. In: GW, Bd. 6, S. 179 ff.