Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 245

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Generalstab. Man weiß zwar, wie schwächlich Brisson für die Durchsetzung der feierlichst versprochenen „Oberhoheit der Zivilgewalt“ sorgte, selbst nachdem er die Diktatur Cavaignacs, des Hampelmannes des Generalstabes, losgeworden war. Immerhin hat er den Kernpunkt des Konflikts zwischen Zivilgewalt und Militärgewalt gegen die Letztere entschieden. Die Einleitung der Dreyfus-Revision[1] war nicht nur an sich eine Tat, deren kein anderer französischer Minister – nach dem in diesem Falle kompetenten und unverdächtigen Zeugnis des „Temps“ – fähig gewesen wäre. Sie war zugleich eine Bürgschaft dafür, daß der Generalstab im Ministerpräsidenten jedenfalls keinen Mitschuldigen für seine staatsstreichlerischen Umtriebe finden wird, wie das unter Méline der Fall gewesen war. Unter Brisson fühlte sich der Militärklüngel überwacht, beengt, was ihn bis zu einem gewissen Grade in den Schranken hielt.

Jetzt bedenke man, daß der schwache aber treue Wachtposten der bedrohten Republik gerade von dem zu überwachenden Militärklüngel über den Haufen gerannt worden ist – und man wird den Ernst der Situation begreifen. Nicht im üblichen parlamentarischen Kampfe fiel das Kabinett Brisson, es stolperte über eine ihm vom jesuitischen Generalstabe gelegte Falle. Die Scheindebatten in der Eröffnungssitzung der Kammer, das ordinäre Ränkespiel der machtgierigen Streber, die abgedroschenen Haarspaltereien der ministerstürzenden und ministerrettenden Formeln, die Abstimmungen über nichtssagende, zweideutige und einander widersprechende Worte – der ganze übliche Spektakel einer Ministerkrisen-Sitzung war diesmal eine noch viel plumpere, eine unendlich plumpere Spiegelfechterei als sonst. Und auch eine unendlich gefährlichere Spiegelfechterei. Denn diesmal war die Militärgewalt die Drahtzieherin des parlamentarischen Spektakels. Und zwar brauchte sie sich nicht einmal hinter den Kulissen zu verstecken. In der Person des wortbrüchigen Kriegsministers, des Generals Chanoine, diktierte der Generalstab der Volksvertretung seinen Willen offen von der Kammertribüne herab. … Einen kurzen Augenblick nur dauerte der mehr oder minder aufrichtige Widerstand der Bourgeoisrepublikaner gegen das Pronunziamento des Generals. Der Widerstand war erschöpft mit dem Votum einer feierlichen Resolution zu Gunsten der „Oberhoheit der Zivilgewalt“. Dann wurde der Wille der Militärgewalt ausgeführt und Brisson im Namen der – „beleidigten Armee“ abgeschlachtet.

Der Sturz Brissons ist das bedrohlichste Anzeichen der Gewalt des Militärklüngels. Die demokratischen und sozialistischen Elemente befürchten immer ernstlicher einen offenen militärischen Staatsstreich. Es ist jedoch nicht einzusehen, wozu die Generäle den waghalsigen Schritt riskieren sollen, solange sie tatsächlich eine wahre Diktatur in aller Sicherheit ausüben können. Ist denn der Präsident der Republik nicht der Fälscherbande des Generalstabes auf Leben und Tod verschworen? Ist denn das Parlament nicht der servile Hausknecht des Generalstabes? Hat denn die Deputierten

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[1] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.