Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 246

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kammer auch nur so viel Mut gezeigt, die Abschlachtung Brissons der Form wegen um einige Tage hinauszuschieben und auf rein parlamentarischem Gebiet vorzunehmen? Hat denn die Justiz trotz Brisson das militärische Attentat gegen Picquart und die gröbste Verletzung des Untersuchungskodex diesem gegenüber zu verhindern gesucht? … Bleibt nur das Kassationsgericht, das, nach seinem bisherigen Verhalten zu urteilen, dem Generalstabe den Gehorsam verweigern dürfte. Aber es ist hundert gegen eins zu wetten, daß die Revision des Dreyfus-Prozesses materiell dem verbrecherischen Klüngel keinen Schaden zufügen würde, ebenso wenig wie die juristische Entlarvung dem Landesverräter Esterhazy und seinem Komplizen du Paty de Clam geschadet hat. Um den moralischen Schaden aber braucht sich die Bande nicht zu kümmern, solange die ihr nahestehenden gesellschaftlichen Kreise sogar den überführten justizmörderischen Fälscher Henry als einen Helden des Patriotismus verherrlichen und solange die Kammermehrheit im Namen der „Armee-Ehre“ die Verfolgung der Presseangriffe gegen die überführten Verbrecher fordert.

Die wirkliche Gefahr für die Fortdauer der innerlich bereits ausgehöhlten Republik liegt nicht in den Staatsstreichgelüsten der Generäle, sondern in der beharrlichen Gleichgültigkeit der großen Volksmassen. Es kann daher kommen, daß in einem gegebenen Moment das Risiko eines offenen Staatsstreichs gänzlich verschwindet. Dann werden die braven Militärs mit Wollust die Republik erdrosseln und den Verfall des Vaterlandes im Namen des Patriotismus besiegeln.

Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden),

Nr. 253 vom 30. Oktober 1898.

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