Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 442

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letariat am Tage nach der sozialen Revolution gestellt sein werden, zwar schwierig und verwickelt genug, allein keineswegs unlösbar.

Auf der einen Seite hebt Kautsky wiederholt hervor, daß die soziale Revolution ein langwieriger historischer Prozeß sei, worin wir schon lange stehen, ohne auch nur entfernt sein Ende absehen zu können. Will man sie aber einmal auf ihre einfachste Gestalt reduzieren, so muß man annehmen, daß dem Proletariat eines schönen Tages die gesamte politische Macht ohne Einschränkung mit einem Schlage zufallen, und es sich bei ihrer Ausübung einzig von seinem Klasseninteresse in der zweckmäßigsten Weise leiten lassen werde. Jenes wird ganz sicherlich nicht, dieses schwerlich zutreffen. Das Proletariat zerfällt bekanntlich in verschiedene Schichten, verschieden namentlich nach ihrer geistigen und ökonomischen Entwicklungsstufe. Es ist aber auch sehr wahrscheinlich, daß zugleich mit dem Proletariat noch andere ihm gesellschaftlich nahestehende Schichten in die Höhe kommen werden, Teile des Kleinbürgertums oder der kleinen Bauernschaft, deren Denkweise sich nicht völlig mit der proletarischen deckt; daraus können Friktionen und Irrwege der mannigfaltigsten Art entspringen.

Wir werden nicht immer können, was wir wollen, und werden nicht immer das wollen, was wir sollen. Von solchen störenden Momenten muß eine wissenschaftliche Untersuchung natürlich absehen.

Auf der anderen Seite muß eine wissenschaftliche Untersuchung von bekannten Voraussetzungen ausgehen; sie kann nicht als ihre Grundlage ein Bild der Zustände annehmen, wie sie sich in der Zukunft entwickeln dürften, denn damit geriete sie ins Bodenlose und Phantastische. Und doch ist es selbstverständlich, daß die Arbeiterklasse nicht unter den heutigen Verhältnissen zur Herrschaft kommen wird. Die Revolution selbst setzt lange und tiefgehende Kämpfe voraus, die bereits die politische und soziale Struktur der heutigen Gesellschaft verändern werden. Nach der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat wird es also Probleme geben, von denen wir heute noch nichts wissen, und manche, mit denen wir uns heute beschäftigen, werden bis dahin gelöst sein. Es werden aber auch Mittel zur Lösung der verschiedenen Probleme auftauchen, von denen wir heute noch keine Ahnung haben.

Kautsky vergleicht seine Methode mit der Methode des Physikers, der die Fallgesetze im luftleeren Raum untersucht und nicht in bewegter Luft. So untersucht Kautsky die Situation des siegreichen Proletariats unter Voraussetzungen, die in voller Reinheit nie eintreffen werden, nämlich unter der Annahme, es werde morgen schon mit einem Schlage zur Alleinherrschaft kommen, und die Mittel, die ihm zur Lösung seiner Aufgaben zur Verfügung ständen, seien die heute gegebenen. Er kommt dabei zu Resultaten, die sich von dem wirklichen Verlauf der Dinge so unterscheiden wie die Fallgesetze von dem wirklichen Fall der verschiedenen Körper. Aber trotz dieser Abweichungen bestehen die Fallgesetze wirklich und beherrschen den Fall jedes einzelnen Körpers, den man erst begreifen kann, wenn man diese Gesetze begriffen hat.

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