Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 427

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dem wuchtigen Gelübde, daß die deutsch-freisinnige Partei niemals die Ostmarken vom Vaterlande abreißen oder abreißen lassen werde.

Es ist etwas Schreckliches um das triviale Pathos des deutschen Biedermannes. Kein Mensch denkt daran, die Ostmarken vom Vaterlande zu reißen, nicht einmal der polnische Junker, der vermutlich am entsetztesten sein würde, wenn ihm je das Schicksal drohen sollte, von den borussischen Fleischtöpfen zu scheiden, um sein verlorenes Vaterland wieder herzustellen. Wozu denn aber diese ganz selbstverständlichen und eben deshalb ganz sinnlosen Redensarten, hinter denen nichts steckt als die alte Faulheit und Feigheit des teutonischen Spießbürgers, als das demütige Bekenntnis, daß man nur Hans Schnock der Schreiner sei und nicht ein Löw’ oder eines Löwen Weib. Wenn Herr Eugen Richter das „Überdeutschtum“ verspottete, so hätte ihm Herr v. Rheinbaben, dürfte er sonst nur die gemeinsamen Kulissengeheimnisse verraten, einfach erwidern können, niemand sei „überdeutscher“ als die deutschfreisinnige Partei, die schon in ihrem Namen ihre Todesangst verrät, sie könne jemals als botokudisch-freisinnig oder als hottentottisch-freisinnig denunziert werden.

Unsere bürgerliche Opposition leidet unter dem Fluche, daß ihr so ganz die Fähigkeit prinzipiellen Denkens und Handelns abhanden gekommen ist. Was hätte sich aus der Kritik dieser Polenvorlage machen lassen, wenn sie vom prinzipiellen Gesichtspunkt aus angefaßt worden wäre; wie hätte sich gerade an ihr die ganze Unfähigkeit der preußischen Bürokratie, vom genialen Grafen Bülow bis hinauf zu dem noch viel genialeren Fürsten Bismarck nachweisen lassen! Aber nichts von alledem. Man stellt sich an, als wäre man der Experte, der irgendeine kapitalistische Spekulation zu beurteilen habe, man weist nach, daß diese Spekulation grundfalsch angelegt sei und daß sie mißglücken müsse, man bringt einige Malicen an, die manchmal mehr und manchmal weniger am Platze sind, und dann schließt man mit der pathetischen Erklärung, übrigens sei man ein Patriot und werde mit eiserner Faust dreinschlagen, wenn einer wagen würde, die Ostmarken vom Vaterland abzureißen, woran, wie gesagt, kein Mensch denkt, und am wenigsten das polnische Junkertum, das mit einer Viertelmilliarde aus der Tasche der Steuerzahler ausgekauft werden soll.

Wir möchten diese Manier, nach der bekannten reservatio mentalis der Jesuiten, die Reservation des Philisters nennen, durch die er zwar nicht sein Gewissen, aber doch seine Haut wahren will, wenn es zum ernstlichen Kampfe kommt. Sie ist ein Erbübel des deutschen Liberalismus, findet sich aber auch bei allen anderen bürgerlichen Parteien, und um so stärker, je mehr sie verkommen. In den Tagen des Kulturkampfes[1] waren die Mallinckrodt und Windthorst ziemlich frei davon; sie sprachen

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[1] Im Jahre 1872 hatte Otto Fürst von Bismarck den Kampf gegen die antipreußischen Bestrebungen der katholischen Kirche begonnen, der mit den Maigesetzen von 1873 seinen Höhepunkt erreichte. Ab 1878 mußte Bismarck einen Ausgleich mit dem Klerus suchen, nachdem seine Maßnahmen ihren Zweck nicht erfüllt, sondern die katholische Kirche noch gestärkt hatten. Papst Leo XIII. beendete am 23. Mai 1887 offiziell den Kulturkampf.