Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 697

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den russischen Reaktionären weit voraus. Waren doch die bürgerlichen Klassen Polens die einzigen, die nach den Metzeleien des 22. Januar in Petersburg und nach dem kosakischen Massenmord in Warschau am 1. Mai[1] Deputationen an die Regierung schickten … mit Danksagungen für den heuchlerischen „Toleranzukas“ in Religionssachen, den sogar russische gemäßigte Liberale mit kalter Verachtung aufnahmen! War es doch ein polnisches Agrarierblatt, der „Dziennik Posnanski“ [„Posener Tageblatt“), das in den Januartagen dem Zaren Nikolaus den nicht etwa ironisch gemeinten Rat gab, seinen bedenklich wackelnden Kopf und die Krone schleunigst nach – Warschau zu retten, als dem einzigen Zufluchtsort, wo ihm die „Ordnungsparteien“ volle Sicherheit garantierten. Die bürgerlichen Klassen Polens stehen eben mit beiden Füßen auf dem festen Boden der kapitalistischen Wirklichkeit, die das alte national-rebellische Polen längst in eine fromme Fabrik des alleinseligmachenden kapitalistischen Profits verwandelt hat. Und die Wirkung dieses kapitalistischen Verwandlungsprozesses ist eine so tiefgehende, daß Polen in der ganzen revolutionären Periode des Zarenreichs als die einzige Provinz dasteht, in der die bürgerlichen Klassen auch nicht die schwächlichste Freiheitsregung kundgetan haben. Keine Spur von bürgerlichem oder agrarischem Liberalismus, wie er in Rußland selbst in so jämmerlicher Gestalt auftritt, keine Spur von bürgerlicher Demokratie in den Kreisen der städtischen Intelligenz. Das Proletariat ganz allein und gegen alle bürgerlichen Klassen und Schichten hat Polen zu einem der gewaltigsten Herde der russischen Revolution gemacht, das Proletariat allein – und unter der Fahne des klaren scharfen Klassenkampfes, im Geiste der Klassensolidarität und Zusammengehörigkeit mit der russischen Arbeiterklasse. Diejenige Partei in Polen, die noch vor wenigen Jahren die national-polnische Losung der Wiedererrichtung Polens vertrat und die bis vor kurzem ihr kümmerliches Dasein hauptsächlich in Galizien fristete: Die sogenannte „Nationale Demokratie“,[2] ein kleinbürgerlich-antisemitisches Sammelsurium, hat im Jahre 1904, gleich bei Beginn der Revolution im Zarenreich offiziell ihr Programm als ein utopisches aufgegeben. Heute spielt sie in Polen die Rolle eines freiwilligen Kommis des Absolutismus, indem sie ihren ganzen Eifer auf die Gründung „nationaler“ gelber Gewerkschaften und auf die Bekämpfung der polnischen Sozialdemokratie richtet. Diese „nationale“ Partei war es auch, die vor wenigen Wochen, vor blinder Wut über die von der Sozialdemokratie inszenierten Generalstreiks, das heißt über den „Ruin der vaterländischen Industrie“, in ihrem Organ „Slowo Polskie“ [Das Wort Polens] in Galizien die Worte schrieb: „Es ist endlich an der Zeit, offen herauszusagen, daß uns der russische Absolutismus viel weniger verhaßt ist als die polnische Sozialdemokratie“… Die andere

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[1] Siehe Rosa Luxemburg: Maimetzeleien in Rußland. In: GW, Bd. 6, S. 526; dies.: Blutiger Mai. In: ebenda, S. 527 f.

[2] Die konservative National-Demokratische Partei (Endecja) war im Juni 1897 als Interessenvertretung der Großbourgeoisie, von Teilen der Großgrundbesitzer und des Kleinbürgertums gegründet worden und vertrat nationalistische und antisemitische Auffassungen. In ihrem Programm lehnte sie revolutionäre Veränderungen in der Gesellschaft ab.