Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 696

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ren. Die Bewegungen der Masse waren mehr spontaner, elementarer Natur, die eigentliche planvolle und zielbewußte Leitung der Sozialdemokratie war in Rußland noch nicht vorhanden, die Bedingungen einer aus freiem Entschluß hervorgegangenen Massenaktion noch nicht geschaffen. Und nun welche Wandlung! In wenigen Stunden nach der Erklärung des Belagerungszustandes in Polen[1] faßte die führende Organisation der Petersburger Arbeiterschaft den Entschluß, eine Solidaritätsaktion für das polnische Proletariat hervorzurufen, in wenigen Stunden ist die Masse mobil, die Eisenbahnen stehen, die Fabriken ruhen, der Generalstreik ist glänzend durchgeführt. In dieser Aktion des gegenwärtigen Moments liegt ein so gewaltiger Fortschritt der politischen Schulung, der Kampfbereitschaft der Massen und des leitenden Einflusses der Sozialdemokratie seit den Januartagen, wie ihn eben nur der Sturmschritt der Revolution möglich macht. Unsere ängstlichen Gegner der Idee des politischen Massenstreiks, die sich mit solcher Behaglichkeit über die vor allem notwendige Disziplin und Schulung der Massen auszulassen pflegen, können jetzt angesichts des mitten im Feuer des Kampfes grandios fortschreitenden Werks der politischen Schulung des Proletariats zeigen, ob sie die unentbehrlichste Fähigkeit des politischen Kämpfers besitzen: zu lernen.

Eine hohe politische Reife verrät aber insbesondere der Beschluß der Petersburger Arbeiterschaft, der ausdrücklich zu einer Solidaritätskundgebung für das revolutionäre polnische Proletariat, und nicht etwa nach altem Sprachgebrauch für das „Polen“ aufruft. Es ist nämlich nichts als die verlogene und plumpe Spekulation der zaristischen Baschibosuken[2], die sie übrigens mit unserem „liberalen“ Hakatistentroß[3] gemein haben, daß sie den Popanz eines nationalen Gegensatzes und einer „nationalen Gärung“ dazu zu fruktifizieren suchen, die revolutionäre Klassenbewegung des Proletariats zu ersticken. Die zaristische Regierung braucht den Belagerungszustand und die phantastische an die Wand gemalte „polnische Gefahr“ zu zweierlei Zwecken. Erstens um die russischen Liberalen, die ja im Grunde ihres Herzens gute „Patrioten“ sind und für die „Integrität“ des Knutenreiches schwärmen, in heilsamen Schreck ob der angeblichen staatsgefährlichen Tendenzen „der Polen“ zu jagen und so ihre Sympathien für die revolutionäre Bewegung überhaupt abzukühlen. Zweitens sollte unter dem Vorwand der „nationalen Gärung“ der rein politische Klassenkampf des polnischen Proletariats gewaltsam zur Ruhe gebracht werden.

In Wirklichkeit gibt es heutzutage in Russisch-Polen auch nicht eine Spur einer nationalen Bewegung im Sinne der Bestrebungen zur Wiederherstellung des polnischen unabhängigen Staates. Die braven Schlachtizen und die kapitalistischen Geldsäcke Russisch-Polens sind in ihrer „Loyalität“ gegenüber der Knutenherrschaft sogar

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[1] Siehe Rosa Luxemburg: Die Revolution in Rußland. In: GW, Bd. 6, S. 687.

[2] Baschi-Bosuks waren gut bewaffnete, irreguläre Truppen in der alten Türkei, berüchtigt wegen ihrer Greueltaten und Plündereien. Sie waren erstmals im Russisch-Türkischen Krieg 1853 aufgetreten.

[3] Der 1894 gegründete Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken, ab 1899 Deutscher Ostmarkenverein, nach den Anfangsbuchstaben seiner Gründer, Ferdinand von Hansemann, Hermann Kennemann und Heinrich von Tiedemann-Seeheim, auch Hakatistenverein genannt. Er vertrat eine rücksichtslose wirtschaftliche und politische Unterdrückungspolitik gegenüber den Polen in den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches und strebte die territoriale Expansion nach dem Osten an.