Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 369

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briviers, dem doktrinären (altliberalen. Die Red.) Provinzialrat, dessen tragisches Mißgeschick Sie erzählt haben.

All dies ist gesetzwidrig; durch eine solche Handlungsweise lehrt man das Publikum die Gesetze zu verachten und man reizt es zur Selbstverteidigung mit allen Mitteln.

Machen Sie mit meiner Erklärung, was Ihnen beliebt, aber seien Sie überzeugt, wir denken alle desgleichen, und die blutigen Attacken der bewaffneten Macht haben für Eure Sache mehr getan, als alle Eure Volksversammlungen.

Die öffentliche Meinung ist ganz auf Eurer Seite.“

So zeigt es sich, daß gerade die Demonstrationen der Masse und die dabei meistens unvermeidlichen Zusammenstöße mit den „Hütern der Ordnung“ manchmal am wirksamsten die Sympathien aller Rechtlichdenkenden und namentlich der Armee wachrufen und auf die Seite der Volkserhebung bringen.

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Nach den zur Stunde vorliegenden Meldungen ist der gestrige Tag ruhig verlaufen.

Über den Verlauf der Beratungen in der Kammer liegt bis jetzt nur ein kurzer offiziöser Bericht vor. Danach hat vormittags vor der Kammersitzung ein allgemeiner Ministerrat stattgefunden. Die Maßregeln zur Aufrechterhaltung der Ordnung waren verschärft worden.

In der Kammer steht auf der Tagesordnung die Revision der Verfassung. Die Tribünen mit Einschluß der für das diplomatische Corps sind überfüllt. Zunächst ergreift der Klerikale Beernaert das Wort und erinnert daran, daß schon vor neun Jahren die Verfassung von den Kammern abgeändert worden sei. Damals habe man geglaubt, daß der Friede für lange Zeit gesichert sei, und jetzt werde die Regierung mit Gewalttätigkeiten bedroht und versucht, die Beratungen des Parlaments zu hindern. Er sei der Ansicht, daß das gegenwärtige Wahlsystem durchaus befriedigend sei. Seit 15 Jahren habe die Kammer zahlreiche soziale Gesetze geschaffen und man antworte ihr darauf mit dem allgemeinen Ausstande. Es müsse zugegeben werden, daß die liberale Linke keinerlei Verantwortung für die Ruhestörungen treffe. Redner wird häufig von dem sozialistischen Abgeordneten Vandervelde unterbrochen, der ausruft: „Das allgemeine Stimmrecht ist alleiniger Souverän.“ Es handelt sich heute um die Existenz Belgiens. Eine Regierung, die vor dem Aufruhr weichen würde, wäre der Stellung, die sie einnimmt, unwürdig. Redner fragt, wie man daran denken könne, die Verfassungsrevision zu verwirklichen, für welche eine Majorität von zwei Dritteln notwendig sei, die man nicht zu finden hoffen könne. Jeron (Progressist) meint, das Parlament könne dem König nahelegen, daß die Auflösung der Kammer am Platze sei. Dazu genüge, daß der Antrag auf Revision angenommen werde. Um 5 Uhr abends wird die Sitzung geschlossen.

Das ist so just der rechte Ton, wie ihn Beernaert angeschlagen hat. „Man“ hat das erweiterte Stimmrecht gegeben; „man“ hat geglaubt … etc. „Man“ ist natürlich die

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