fortschritt, an dem auch die Arbeiter teilnehmen, wird von uns gar nicht bestritten. Aber was dabei die Hauptsache ist, das ist der trotz der absoluten Hebung der materiellen Lage wachsende Abstand zwischen der Lebenshaltung der Arbeiterschaft und der der bürgerlichen Klassen, und dieser vergrößert sich ungeachtet aller Sozialreformen und gewerkschaftlichen Kämpfe. Von England ist das Schlagwort von der sogenannten industriellen Demokratie zu uns gekommen. Daß dort meistens nur noch von Koalition zu Koalition verhandelt werde, das ist uns auch als ein Stück Sozialismus vorgeführt worden. Bei näherem Zusehen ändert aber auch diese vielgepriesene industrielle Demokratie nur die Form und keineswegs das Wesen des Lohnverhältnisses. – Alle diese dargelegten Theorien stammen von bürgerlichen Vertretern der „Wissenschaft“. Aber auch in unseren Reihen fanden diese Anschauungen bekanntlich zahlreiche Anhänger. Noch vor einem Jahre schlugen die opportunistischen Wellen hoch. Heute hört man wenig mehr davon. Das hohe Lied der friedlichen, gesetzlichen sozialen Entwicklung ist verstummt angesichts der Ereignisse der neuesten Zeit. Die Erfahrungen Belgiens, Frankreichs, Italiens, die Krise, der Brotwucher in Deutschland, alles das hat wieder einmal der alten prinzipiellen Auffassung des Sozialismus Recht gegeben. Das, was man als Ergebnisse einer kritischen Wissenschaft hingestellt hat, hat sich als Seifenblasen herausgestellt. Wie wurde die Marxsche Lehre schon tot gesagt und begraben, und heute ist sie lebendiger denn je. Die letzten Ereignisse in allen Ländern bestätigen sie aufs Neue und rufen dem Proletariat mit mächtiger Stimme zu: In diesem Zeichen wirst Du siegen! (Lebhafter Beifall.)
Leipziger Volkszeitung,
Nr. 88 vom 18. April 1902.
Erstveröffentlichung durch Harald Koth, in: Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte 1 (als Manuskriptdruck bereits 2001), Leipziger Reden und Schriften Rosa Luxemburgs, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2007, S. 28 ff.