Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 365

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Seite bekommen würde, daher auch von dieser Seite der Versuch zur Einführung sozialer Reformen. Allein alle diese Maßnahmen erwiesen sich gegen die Sozialdemokratie unwirksam. Und kein Wunder. Die Anstrengungen der Gegner, uns zu vernichten, müssen fatalerweise zu unserem Vorteil ausschlagen. Werden nämlich soziale Reformen eingeführt, so hebt sich die Lebenslage der Arbeiter; sie werden intelligenter, haben mehr freie Zeit und schließen sich uns an. Desgleichen werden sie aber durch Unterdrückungsmaßregeln uns zugeführt. Die Freunde der Arbeiter aus dem bürgerlichen Lager haben nun angesichts dieser Zwickmühle eine neue Idee ausgeheckt, um uns zu vernichten. In die alten Begriffe des Sozialismus und des Klassenkampfes suchen sie einen neuen Inhalt zu gießen und reden den Arbeitern ein, daß, um wirkliche soziale Reformen durchzuführen, ein Umsturz der heutigen Gesellschaft gar nicht notwendig ist. Schon die Tätigkeit in Tarifgemeinschaften, Genossenschaften etc. sei eine Verwirklichung des Sozialismus. Um diese Behauptungen richtig zu kennzeichnen, brauche man bloß die bürgerliche Sozialreform im Laufe des verflossenen halben Jahrhunderts zu betrachten. Nur zwei Staaten mit kapitalistischer Produktion haben eine gesetzlich geregelte Arbeitszeit für alle industriellen Arbeiterkategorien.[1] Und unter was für Kämpfen ist das bißchen Sozialreform zustande gekommen? In England ist 1847 die Zehnstundenbill[2] durchgegangen, aber seither ist so gut wie gar kein Fortschritt zu verzeichnen. Erst kürzlich ist im englischen Parlament die gesetzliche Regelung der Arbeitszeit für die Bergleute mit Hilfe von „Arbeitervertretern“, von Gewerkschaftern, die uns häufig als leuchtendes Beispiel hingestellt werden, zu Fall gekommen.[3] In Frankreich wird in den letzten drei Jahren eine rege Tätigkeit auf sozialpolitischem Gebiete entwickelt.[4] Aber auch hier ist nur weniges durchgreifend und das meiste – die übliche parlamentarische Flickarbeit. Die Rednerin schildert und kritisiert eingehend die sozialreformerische Tätigkeit Millerands. Wie mit der Gesetzgebung über die Arbeitszeit, so ist es auch mit den Versicherungsgesetzen bestellt. Unsere Gegner werfen den Arbeitern ständig die 27 Millionen vor, die das Reich für die Versicherung geleistet hat. Und dabei sind dies Bettelpfennige gegenüber den fortwährenden Liebesgaben, Prämien, Aufträgen für Militär, Marine und dergleichen, die den Industriellen und Junkern jahrein, jahraus durch das Reich zufließen. Allerdings die allmähliche Hebung der Lage, der Kultur

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[1] Das betraf Australien und Neuseeland. In den USA war nach einem Bericht aus dem Jahre 1906 der Achtstundentag in 31 von 45 Bundesstaaten eingeführt. Siehe Histoire de la II. Internationale, Bd. 3, Geneve 1976.

[2] Gemeint ist das Gesetz über die Beschränkung des Arbeitstages für Frauen und Jugendliche auf zehn Stunden, das das englische Parlament am 8. Juni 1847 beschlossen hatte.

[3] Am 12. März 1902 hatte die Mehrheit der Abgeordneten im britischen Unterhaus einen Antrag auf Einführung des Achtstundentages für Bergarbeiter abgelehnt.

[4] In Frankreich war 1900 unter maßgeblicher Mitwirkung des sozialistischen Ministers Alexandre-Ètienne Millerand ein Gesetz erlassen worden, wonach ab 1901 für Jugendliche, für Frauen und für Männer, die mit diesen in einem Raum arbeiteten, die Arbeitszeit auf 11 Stunden, ab 1902 auf 10,5 Stunden und ab 1904 auf 10 Stunden begrenzt werden sollte.