Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 268

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stische verwandeln können? Die Erfahrung zeigt uns, daß die Produktivgenossenschaften nur da gedeihen, wo sie sich direkt an Konsumvereine anlehnen oder von diesen selbst gegründet werden. Diese sind aber stets nur auf einen lokalen Absatz angewiesen. Die Handelsartikel der Konsumvereine bestehen meist nur aus Lebensmitteln und Bedarfsartikeln, die aber nur einen verschwindenden Teil der ganzen heutigen Produktion ausmachen. Allein in den Vereinigten Staaten von Amerika wurden von 1898/99: 487 Aktiengesellschaften mit einem Kapital von zirka 30 Milliarden Mark neu errichtet. Was bedeuten dieser gewaltigen Produktion gegenüber die winzigen Zahlen der Genossenschaften? Das kapitalistische System durch die Genossenschaften langsam ersetzen zu wollen, hat ebenso viel Aussicht auf Erfolg, als wenn wir den Atlantischen Ozean mit dem Fingerhut ausschöpfen wollten.

Bernsteins Optimismus bezieht sich aber nicht nur auf das wirtschaftliche Gebiet, sondern er vertritt auch die Ansicht, daß die Demokratie in der Lage sei, der Klassenherrschaft ein Ende zu machen, ja daß Demokratie schon prinzipiell Aufhebung der Klassenherrschaft sei. Schaut um Euch, wie in der demokratischen Schweiz die Klassenherrschaft wütet. Nichts Neues ist es, was Bernstein da sagt. Wo einst noch die Alleinherrschaft bestand, da sollte nach den Versicherungen aller bürgerlichen und kleinbürgerlichen Demokraten die Demokratie das Allheilmittel gegen alle sozialen Übel sein. Aber gerade unter der Demokratie haben sich die Klassenherrschaft und die Klassengegensätze nur schärfer entwickelt. Wo treten beispielsweise die Klassengegensätze schärfer und klarer zu Tage: im absolutistischen Rußland oder in dem konstitutionellen Deutschland?

Deshalb gerade ist die Demokratie so unentbehrlich für uns, nicht weil sie den Klassenkampf aufhebt, sondern weil sie dem Volke ermöglicht, den Klassenkampf zu führen und zu Ende zu führen. Aber gerade weil die herrschenden Klassen sehen, daß sich die Arbeiter in ihrem Interesse der Demokratie bedienen, sind sie bestrebt, den Arbeitern die politischen Rechte wieder zu nehmen. In Deutschland ist das Koalitionsrecht wie das Wahlrecht bedroht,[1] in Frankreich herrscht seit Jahren die Dreyfus-Affäre[2], die nichts anderes ist als der Kampf des Pfaffentums und des Militarismus gegen die Republik, die erdrosselt werden soll. In Italien wird um das Vereinigungsrecht, das Versammlungsrecht und die Pressefreiheit gekämpft,[3] in Belgien wird den

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[1] Gemeint ist der Versuch der Regierung, mit einem Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“ vom 20. Juni 1899 gegen die zunehmende Streikbewegung anzukommen und de facto das Koalitions- und Streikrecht der Arbeiter zu beseitigen. Die „Zuchthausvorlage“ wurde gegen die Stimmen der Konservativen am 20. November abgelehnt.

[2] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.

[3] Anfang Mai 1898 war es in Süditalien und in der Toskana zu sich rasch ausbreitenden Hungerrevolten wegen der stark gestiegenen Weltmarktpreise für Getreide und der rigorosen Schutzzollpolitik der italienischen Regierung gekommen. Als am 6. Mai in Mailand ein Flugblattverteiler der Sozialisten, die zum Protest gegen das Regime des Königs Umberto aufriefen, verhaftet wurde, eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen den spontan streikenden Arbeitern, der Polizei und dem Militär. Gegen den Aufstand in Mailand mit Barrikadenbau schritt das Militär brutal ein und tötete Hunderte. Am 1. August 1898 kam es zu einem Aufsehen erregenden Prozeß gegen einen Republikaner und den Sozialistenführer Filippo Turati. Der internationale Protest war so groß, daß der vom Mailänder Kriegsgericht zu zwölf Jahren Zuchthaus und zur Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilte Turati nach sechs Monaten amnestiert werden mußte. In Reaktion auf die Hungerrevolten und den Mailänder Aufstand war die italienische Regierung des Generals Pelloux 1899 bestrebt, durch gesetzgeberische Maßnahmen die demokratischen Freiheiten einzuschränken. Nach Auflösung der Kammer und Neuwahlen im Juni 1900 mußte Pelloux jedoch zurücktreten.