Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 269

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Arbeitern ein wirksames Stimmrecht verweigert, Österreich ist überhaupt kein parlamentarisch regiertes Land, der König bewilligt sich selbst die Steuern, ohne nach dem Reichsrat zu fragen. Das alles soll nur ein zufälliges Aufleben der Reaktion sein, in ganz Europa soll die Reaktion nur eine vorübergehende Erscheinung sein? Aber wir sehen sie auch in Amerika aufleben. Die amerikanische Republik bekommt plötzlich Appetit auf fremde Länder,[1] sie treibt Kolonialpolitik, an Stelle der Miliz wird stehendes Heer eingeführt. Die Reaktion wütet also überall, in Europa, in Amerika, wie die Pest wird sie durch das Kolonialsystem nach Asien und Afrika verschleppt.

Mit einem Wort, die Reaktion wütet so, daß wir kaum Zeit haben, ihre Schläge zu parieren, der bürgerliche Liberalismus ist bereits zu einem Leichnam geworden, der so stark duftet, daß man sich die Nase zuhalten muß. Und angesichts alles dessen kommt Bernstein aus seinem Schlafzimmer heraus, reibt sich die Augen und erklärt: Das rieche ja ganz nach Rosen und Veilchen, das sei ja der reinste demokratische Frühling. Da muß man schon sagen, wie der brave Sergeant im Onkel Benjamin: Ich sehe wohl seine Beine, aber Gott strafe mich, wenn ich weiß, wo sein Kopf steckt![2]

Das sind eben alles nicht zufällige vorübergehende Erscheinungen, sondern es sind Zuckungen einer zu Tode getroffenen Gesellschaft, die sich zum letzten Kampf aufrafft. Freilich ist die Arbeiterbewegung selbst zum großen Teil an dieser Reaktion schuld. Aber nicht unsere Reden von unserem Endziel, sondern unser Streben zum Endziel ist es, was das Bürgertum erschreckt und es der Reaktion in die Arme treibt, nicht die revolutionären Phrasen, sondern unsere Taten bringen die bürgerliche Gesellschaft in Aufregung. Wollten wir nach dem Bernsteinschen Rezept die Bourgeoisie zum Liberalismus erwecken, so müßten wir nicht nur von unserem Endziel nicht sprechen, sondern wir müßten auf unser Endziel verzichten.

Bernstein sagt: Das Endziel ist mir nichts, die Bewegung alles.[3] Diese Theorie bedeutet, für den Preis kleiner augenblicklicher Vorteile den Kampf gegen die Klassengesellschaft aufgeben, eine Theorie, die, wenn sie je in der Arbeiterbewegung angewendet wäre, sie nach jeder Richtung hin in sehr kurzer Zeit zum gänzlichen Schiffbruch führen würde.

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[1] Mit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg April bis Dezember 1898 verstärkten die USA ihren Einfluß in Lateinamerika, erweiterten ihr Kolonialreich durch Kuba, Puerto Rico und Guam und erorberten mit den Philippinen eine strategisch wichtige Militärbasis in Ostasien.

[2] Frei zitiert, siehe Claude Tillier: Mein Onkel Benjamin, Leipzig 1982, S. 224, wo es heißt: „Ich sehe wohl den Kopf, aber ich will des Teufels sein, wenn ich weiß, wo seine Beine sind.“

[3] Es handelt sich um Bernsteins Feststellung: „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus‘ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ Eduard Bernstein: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft. 2. Die Zusammenbruchstheorie und die Kolonialpolitik. In: Die Neue Zeit, XVI. Jg., 1897/1898, Erster Band, S. 556.