Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 270

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Was die Erörterung dieser Theorie auf dem Parteitag notwendig macht, das ist der Umstand, daß diese Theorie bloß der Ausdruck einer „praktischen“ Richtung ist, die seit Jahrzehnten in der Partei ihr Unwesen treibt, die das Auge nur auf unmittelbare Erfolge des täglichen Kampfes gerichtet wissen will, die Hauptsache aber, das Endziel, die Eroberung der politischen Macht zur gänzlichen Aufhebung des Kapitalismus, aus dem Auge lassen will. Mit Vollmars Ansichten über den Staatssozialismus,[1] die so heftige Erörterungen auf den Parteitagen in Erfurt und in Berlin zur Folge hatten, hat es begonnen. Es folgte die bayerische Budgetabstimmung,[2] die mit den Grundsätzen nicht nur der Sozialdemokratie, sondern jeder oppositionellen Partei brach. Auch die Auseinandersetzungen über das Agrarprogramm brachten opportunistische Ansichten zum Vorschein,[3] die wiederum aus Süddeutschland kamen. In Hamburg verlangte Schippel, da wir doch vor allem Vertreter der deutschen Industriearbeiter seien, Rücksichten auf die Industrie durch Schutzzölle zu nehmen.[4] Auer äußerte sich daselbst dahin, daß wir ja unsere Soldaten nicht mit Stöcken bewaffnen können.[5] Die 1898er Wahl brachte Heines genialen Vorschlag, für Kanonen Volksrechte einzutauschen.[6] In Stuttgart trat Schippel offen für den Schutzzoll ein[7] und Vollmar zog gegen die Pariser Kommunekämpfer zu Felde mit der Äußerung, sie hätten besser getan, sich schlafen zu legen.[8]

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[1] Zu Beginn des „Neuen Kurses“ unter Wilhelm II. und Caprivi gab Georg Vollmar Anfang Juni 1891 in zwei Reden, die er in dem Münchener Lokal „Eldorado“ hielt, die Losung „Dem guten Willen die offene Hand, dem schlechten die Faust!“ aus. Er verstand darunter ein durch reformerische Tätigkeit geprägtes „langsames, organisches Entwickeln“, denn „das Alte wächst allmählich, viel zu langsam für den hochfliegenden Sinn, aber sicher in das Neue hinein“. Georg von Vollmar: Reden und Schriften zur Reformpolitik, Berlin–Bonn–Bad Godesberg 1977, S. 140 f.

[2] Erstmals in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie hatte am 1. Juni 1894 im bayerischen Landtag eine sozialdemokratische Fraktion dem Landesbudget zugestimmt.

[3] Gemeint ist der 1894/1895 unter Federführung von Eduard David entstandene Programmvorschlag, in dem „Bauernschutz“ schon unter kapitalistischen Bedingungen in Aussicht gestellt wurde. Der Parteitag in Breslau 1895 beschloß aber kein Agrarprogramm und ließ die Frage letztlich unentschieden.

[4] Max Schippel hatte auf dem Hamburger Parteitag 1897 geäußert: „Im Augenblick zollpolitischer Verhandlungen die Stellung der deutschen Unterhändler schwächen, heißt nur das hochschutzzöllnerische Amerika im Widerstande gegen Konzessionen stärken und die Erfolge für den deutschen Industrieexport abschwächen, mit dessen Interessen vielfach die Interessen der deutschen Arbeiterklasse zusammenfallen.“ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei, abgehalten zu Jena vom 3. bis 9. Oktober 1897, Berlin 1897, S. 122.

[5] Ignatz Auer sprach sich zwar für eine grundsätzliche, aber gegen eine spezielle antimilitaristische Propaganda aus. Er fragte, ob denn ein Krieg gegen den Zarismus, „geführt werden soll mit Kanonen, die von allen übrigen Staaten, Rußland mit eingeschlossen, längst überholt sind? Dann können Sie ja auch die Soldaten mit Stöcken ausgerüstet ins Feld schicken“. Ebenda, S. 139.

[6] Gemeint ist die „Kompensationspolitik“ von Wolfgang Heine, der in einer Rede am 10. Februar 1898 im 3. Berliner Reichstagswahlkreis die Auffassung vertreten hatte, die Sozialdemokratie könne der Regierung Militärforderungen bewilligen, wenn dafür „Volksfreiheiten“ gewährt würden. Ein solcher Kompromiß lief auf eine Revision des antimilitaristischen Kampfes der deutschen Sozialdemokratie hinaus.

[7] Max Schippel meinte, „daß die Frage Schutzzoll oder Freihandel niemals Klassenfrage der Arbeiter werden kann. Je nach dem Standpunkt [der ökonomischen Entwicklung] sind die Arbeiter in den einzelnen Ländern schutzzöllnerisch oder freihändlerisch und sie tun gut daran.“ Parteitagsprotokoll Stuttgart 1898, S. 183 f.

[8] Siehe ebenda, S. 105 f.